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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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Man wird nach einiger Überlegung gerne zugestehen, daß
diese Annahme die einfachste überhaupt mögliche ist, weil sie
die denkbar einfachste Formel für den functionellen Zusammen-
hang zwischen physischem und psychischem Geschehen setzt.

Aber sie genügt auch allen Anforderungen, welche die all-
gemeine Nervenphysiologie stellen kann. Wir müssen im ner-
vösen Sehapparate eine Substanz annehmen, welche unter dem
Einflusse des einfallenden Lichtes eine Änderung erleidet, und
diese Änderung, möge sie sich physikalisch charakterisiren lassen,
wie sie wolle, ist doch, wie die Nervenphysiologie annehmen
muß, zugleich ein chemischer Vorgang. Hat die Einwirkung
des Lichtes aufgehört, so kehrt die veränderte (mehr oder min-
der "ermüdete") Substanz früher oder später in ihren ursprüng-
lichen Zustand zurück. Diese Rückkehr kann wieder nichts an-
deres sein, als eine chemische Änderung in entgegengesetzter
Richtung. Will man die unter dem directen Einflusse des Lichtes
stattfindende chemische Veränderung der erregbaren Substanz als
eine partielle Consumtion auffassen, so muß man die Rückkehr
zur früheren Beschaffenheit als eine Restitution bezeichnen, will
man erstere als einen Spaltungsproceß, so muß man letztere
als einen synthetischen Proceß ansehen etc.

Den letzteren Proceß, durch welchen die lebendige orga-
nische Substanz den durch Erregung oder Thätigkeit erlittenen
Verlust wieder ersetzt, pflegt man auch als Assimilirung zu
bezeichnen und ich will diesen Ausdruck beibehalten. Bei der
Erregung oder Thätigkeit bildet nun jede lebendige und erregbare
organische Substanz nach allgemeiner Annahme gewisse chemische
Producte. Das Entstehen dieser Producte will ich analog als den
Proceß der Dissimilirung bezeichnen.

Die soeben ausgesprochenen Sätze über Assimilirung (A)
und Dissimilirung (D) der organischen Substanz sind den Er-
fahrungen der allgemeinen Physiologie und der Nervenphysiologie
insbesondere entnommen und haben sich also ganz unabhängig
von unserer Hypothese entwickelt. Ihre Richtigkeit vorausgesetzt,
ist durchaus nicht einzusehen, warum blos die eine Art des che-
mischen Geschehens in der Sehsubstanz, nämlich der Dissimili-
rungsproceß, eine psychophysische Bedeutung haben soll, die
andere, der Assimilirungsproceß, aber nicht. Die übliche Ansicht,

Man wird nach einiger Überlegung gerne zugestehen, daß
diese Annahme die einfachste überhaupt mögliche ist, weil sie
die denkbar einfachste Formel für den functionellen Zusammen-
hang zwischen physischem und psychischem Geschehen setzt.

Aber sie genügt auch allen Anforderungen, welche die all-
gemeine Nervenphysiologie stellen kann. Wir müssen im ner-
vösen Sehapparate eine Substanz annehmen, welche unter dem
Einflusse des einfallenden Lichtes eine Änderung erleidet, und
diese Änderung, möge sie sich physikalisch charakterisiren lassen,
wie sie wolle, ist doch, wie die Nervenphysiologie annehmen
muß, zugleich ein chemischer Vorgang. Hat die Einwirkung
des Lichtes aufgehört, so kehrt die veränderte (mehr oder min-
der „ermüdete“) Substanz früher oder später in ihren ursprüng-
lichen Zustand zurück. Diese Rückkehr kann wieder nichts an-
deres sein, als eine chemische Änderung in entgegengesetzter
Richtung. Will man die unter dem directen Einflusse des Lichtes
stattfindende chemische Veränderung der erregbaren Substanz als
eine partielle Consumtion auffassen, so muß man die Rückkehr
zur früheren Beschaffenheit als eine Restitution bezeichnen, will
man erstere als einen Spaltungsproceß, so muß man letztere
als einen synthetischen Proceß ansehen etc.

Den letzteren Proceß, durch welchen die lebendige orga-
nische Substanz den durch Erregung oder Thätigkeit erlittenen
Verlust wieder ersetzt, pflegt man auch als Assimilirung zu
bezeichnen und ich will diesen Ausdruck beibehalten. Bei der
Erregung oder Thätigkeit bildet nun jede lebendige und erregbare
organische Substanz nach allgemeiner Annahme gewisse chemische
Producte. Das Entstehen dieser Producte will ich analog als den
Proceß der Dissimilirung bezeichnen.

Die soeben ausgesprochenen Sätze über Assimilirung (A)
und Dissimilirung (D) der organischen Substanz sind den Er-
fahrungen der allgemeinen Physiologie und der Nervenphysiologie
insbesondere entnommen und haben sich also ganz unabhängig
von unserer Hypothese entwickelt. Ihre Richtigkeit vorausgesetzt,
ist durchaus nicht einzusehen, warum blos die eine Art des che-
mischen Geschehens in der Sehsubstanz, nämlich der Dissimili-
rungsproceß, eine psychophysische Bedeutung haben soll, die
andere, der Assimilirungsproceß, aber nicht. Die übliche Ansicht,

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[78/0086] Man wird nach einiger Überlegung gerne zugestehen, daß diese Annahme die einfachste überhaupt mögliche ist, weil sie die denkbar einfachste Formel für den functionellen Zusammen- hang zwischen physischem und psychischem Geschehen setzt. Aber sie genügt auch allen Anforderungen, welche die all- gemeine Nervenphysiologie stellen kann. Wir müssen im ner- vösen Sehapparate eine Substanz annehmen, welche unter dem Einflusse des einfallenden Lichtes eine Änderung erleidet, und diese Änderung, möge sie sich physikalisch charakterisiren lassen, wie sie wolle, ist doch, wie die Nervenphysiologie annehmen muß, zugleich ein chemischer Vorgang. Hat die Einwirkung des Lichtes aufgehört, so kehrt die veränderte (mehr oder min- der „ermüdete“) Substanz früher oder später in ihren ursprüng- lichen Zustand zurück. Diese Rückkehr kann wieder nichts an- deres sein, als eine chemische Änderung in entgegengesetzter Richtung. Will man die unter dem directen Einflusse des Lichtes stattfindende chemische Veränderung der erregbaren Substanz als eine partielle Consumtion auffassen, so muß man die Rückkehr zur früheren Beschaffenheit als eine Restitution bezeichnen, will man erstere als einen Spaltungsproceß, so muß man letztere als einen synthetischen Proceß ansehen etc. Den letzteren Proceß, durch welchen die lebendige orga- nische Substanz den durch Erregung oder Thätigkeit erlittenen Verlust wieder ersetzt, pflegt man auch als Assimilirung zu bezeichnen und ich will diesen Ausdruck beibehalten. Bei der Erregung oder Thätigkeit bildet nun jede lebendige und erregbare organische Substanz nach allgemeiner Annahme gewisse chemische Producte. Das Entstehen dieser Producte will ich analog als den Proceß der Dissimilirung bezeichnen. Die soeben ausgesprochenen Sätze über Assimilirung (A) und Dissimilirung (D) der organischen Substanz sind den Er- fahrungen der allgemeinen Physiologie und der Nervenphysiologie insbesondere entnommen und haben sich also ganz unabhängig von unserer Hypothese entwickelt. Ihre Richtigkeit vorausgesetzt, ist durchaus nicht einzusehen, warum blos die eine Art des che- mischen Geschehens in der Sehsubstanz, nämlich der Dissimili- rungsproceß, eine psychophysische Bedeutung haben soll, die andere, der Assimilirungsproceß, aber nicht. Die übliche Ansicht,

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/86>, abgerufen am 29.04.2024.