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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Nicht für allzu lauge Zeit. Ueber Jahr und Tag entsproß dieser Ehe ein Mädchen, das nicht minder, als damals der kleine Andree, den theilnehmenden Nachbarn zu reden gab. Es war das leibhaftige Ebenbild des Vaters, schön weiß und roth, mit schlichtem blondem Haar, der Mutter in keinem Zuge ähnlich, als daß sich früh Anwandlungen einer phantastischen Gemüthsart, einer leicht beweglichen Einbildungskraft und weiblicher Eitelkeit an ihr zeigten, nur weniger ausschweifend, als bei der Mutter, und durch die große Anmuth ihrer kleinen Person ins Liebenswürdige gemildert, aber immerhin gefährlich, da es dem Kinde an einer festen Hand fehlte, die seinen Leichtsinn gezügelt und die schönen Wucherblumen aus der jungen Seele sorgsam ausgereutet hätte.

Denn kaum konnte die kleine Maria die ersten kindischen Schmeichelkünste spielen lassen, so stahl sie der Mutter das Herz so vollständig, daß sie dem alteren Bruder selbst das Pflichttheil der Barmherzigkeit mit entwendete. Er, der früher der Abgott seiner Mutter gewesen, war nun auf einmal nicht allein ihrer Gleichgültigkeit, sondern einer entschiedenen Abneigung, die sich mit den Jahren zu offenem Hasse steigerte, wehrlos preisgegeben. Es half nicht viel, daß der gutmüthige Pflegevater sich des Knaben annahm. Ja selbst, als die kleine Schwester heranwuchs und sich mit stürmischer Zärtlichkeit an den Bruder anschloß, vermochte sie, die sonst Alles durchsetzte, den

Nicht für allzu lauge Zeit. Ueber Jahr und Tag entsproß dieser Ehe ein Mädchen, das nicht minder, als damals der kleine Andree, den theilnehmenden Nachbarn zu reden gab. Es war das leibhaftige Ebenbild des Vaters, schön weiß und roth, mit schlichtem blondem Haar, der Mutter in keinem Zuge ähnlich, als daß sich früh Anwandlungen einer phantastischen Gemüthsart, einer leicht beweglichen Einbildungskraft und weiblicher Eitelkeit an ihr zeigten, nur weniger ausschweifend, als bei der Mutter, und durch die große Anmuth ihrer kleinen Person ins Liebenswürdige gemildert, aber immerhin gefährlich, da es dem Kinde an einer festen Hand fehlte, die seinen Leichtsinn gezügelt und die schönen Wucherblumen aus der jungen Seele sorgsam ausgereutet hätte.

Denn kaum konnte die kleine Maria die ersten kindischen Schmeichelkünste spielen lassen, so stahl sie der Mutter das Herz so vollständig, daß sie dem alteren Bruder selbst das Pflichttheil der Barmherzigkeit mit entwendete. Er, der früher der Abgott seiner Mutter gewesen, war nun auf einmal nicht allein ihrer Gleichgültigkeit, sondern einer entschiedenen Abneigung, die sich mit den Jahren zu offenem Hasse steigerte, wehrlos preisgegeben. Es half nicht viel, daß der gutmüthige Pflegevater sich des Knaben annahm. Ja selbst, als die kleine Schwester heranwuchs und sich mit stürmischer Zärtlichkeit an den Bruder anschloß, vermochte sie, die sonst Alles durchsetzte, den

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[0042] Nicht für allzu lauge Zeit. Ueber Jahr und Tag entsproß dieser Ehe ein Mädchen, das nicht minder, als damals der kleine Andree, den theilnehmenden Nachbarn zu reden gab. Es war das leibhaftige Ebenbild des Vaters, schön weiß und roth, mit schlichtem blondem Haar, der Mutter in keinem Zuge ähnlich, als daß sich früh Anwandlungen einer phantastischen Gemüthsart, einer leicht beweglichen Einbildungskraft und weiblicher Eitelkeit an ihr zeigten, nur weniger ausschweifend, als bei der Mutter, und durch die große Anmuth ihrer kleinen Person ins Liebenswürdige gemildert, aber immerhin gefährlich, da es dem Kinde an einer festen Hand fehlte, die seinen Leichtsinn gezügelt und die schönen Wucherblumen aus der jungen Seele sorgsam ausgereutet hätte. Denn kaum konnte die kleine Maria die ersten kindischen Schmeichelkünste spielen lassen, so stahl sie der Mutter das Herz so vollständig, daß sie dem alteren Bruder selbst das Pflichttheil der Barmherzigkeit mit entwendete. Er, der früher der Abgott seiner Mutter gewesen, war nun auf einmal nicht allein ihrer Gleichgültigkeit, sondern einer entschiedenen Abneigung, die sich mit den Jahren zu offenem Hasse steigerte, wehrlos preisgegeben. Es half nicht viel, daß der gutmüthige Pflegevater sich des Knaben annahm. Ja selbst, als die kleine Schwester heranwuchs und sich mit stürmischer Zärtlichkeit an den Bruder anschloß, vermochte sie, die sonst Alles durchsetzte, den

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/42>, abgerufen am 26.04.2024.