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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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rückhaltend. -- Man ließ sie selbst selten zu
Minen, obgleich sie sich recht nach ihr sehn-
te. Sie neigte sich sehr zur Schwermuth, und
man mußt alles entfernen, was diesem Tem-
peramente Nahrung gab. Bei ihren letzten
Wochen war einer von den drey Lindenbäu-
men, die vor dem Pastorhause standen, aus-
gegangen; dies hatte sie sich so zu Gemüthe
gezogen, daß vorzüglich jeder Lindenbaum sie
gleich zum Tiefsinn brachte. Wenn die Linden
blüheten, war sie immer in Thränen. Die
gemeinen Leute nannten es eine Linden-
krankheit.
-- Sie fanden indessen auch in an-
dern Vorfällen Anlässe zur Traurigkeit, und
Nahrung für ihre Schwermuth. Die gute
Pastorin hatte sich eingebildet, daß der Lin-
denbaum vor dem Pastorat, da er in ihrem
Geburtsjahre gepflanzet worden, jetzo ihren
Tod ankündige, und ihr Vorläufer, ihr Jo-
hannes, seyn würde. Gewiß hat dieser
Baum ihr Leben mitgenommen! -- Sie
weint', oft am heitersten Tage. -- Der arme
Prediger, welcher anfangs alle Mittel ange-
wendet hatte, diese Krankheit zu heilen, sahe
wohl ein, daß sie nicht heilbar wäre.

Oft mußt er ihr sogar die Bibel wegneh-
men. Sie war nicht aus den Klagliedern

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ruͤckhaltend. — Man ließ ſie ſelbſt ſelten zu
Minen, obgleich ſie ſich recht nach ihr ſehn-
te. Sie neigte ſich ſehr zur Schwermuth, und
man mußt alles entfernen, was dieſem Tem-
peramente Nahrung gab. Bei ihren letzten
Wochen war einer von den drey Lindenbaͤu-
men, die vor dem Paſtorhauſe ſtanden, aus-
gegangen; dies hatte ſie ſich ſo zu Gemuͤthe
gezogen, daß vorzuͤglich jeder Lindenbaum ſie
gleich zum Tiefſinn brachte. Wenn die Linden
bluͤheten, war ſie immer in Thraͤnen. Die
gemeinen Leute nannten es eine Linden-
krankheit.
— Sie fanden indeſſen auch in an-
dern Vorfaͤllen Anlaͤſſe zur Traurigkeit, und
Nahrung fuͤr ihre Schwermuth. Die gute
Paſtorin hatte ſich eingebildet, daß der Lin-
denbaum vor dem Paſtorat, da er in ihrem
Geburtsjahre gepflanzet worden, jetzo ihren
Tod ankuͤndige, und ihr Vorlaͤufer, ihr Jo-
hannes, ſeyn wuͤrde. Gewiß hat dieſer
Baum ihr Leben mitgenommen! — Sie
weint’, oft am heiterſten Tage. — Der arme
Prediger, welcher anfangs alle Mittel ange-
wendet hatte, dieſe Krankheit zu heilen, ſahe
wohl ein, daß ſie nicht heilbar waͤre.

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men. Sie war nicht aus den Klagliedern

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[419/0429] ruͤckhaltend. — Man ließ ſie ſelbſt ſelten zu Minen, obgleich ſie ſich recht nach ihr ſehn- te. Sie neigte ſich ſehr zur Schwermuth, und man mußt alles entfernen, was dieſem Tem- peramente Nahrung gab. Bei ihren letzten Wochen war einer von den drey Lindenbaͤu- men, die vor dem Paſtorhauſe ſtanden, aus- gegangen; dies hatte ſie ſich ſo zu Gemuͤthe gezogen, daß vorzuͤglich jeder Lindenbaum ſie gleich zum Tiefſinn brachte. Wenn die Linden bluͤheten, war ſie immer in Thraͤnen. Die gemeinen Leute nannten es eine Linden- krankheit. — Sie fanden indeſſen auch in an- dern Vorfaͤllen Anlaͤſſe zur Traurigkeit, und Nahrung fuͤr ihre Schwermuth. Die gute Paſtorin hatte ſich eingebildet, daß der Lin- denbaum vor dem Paſtorat, da er in ihrem Geburtsjahre gepflanzet worden, jetzo ihren Tod ankuͤndige, und ihr Vorlaͤufer, ihr Jo- hannes, ſeyn wuͤrde. Gewiß hat dieſer Baum ihr Leben mitgenommen! — Sie weint’, oft am heiterſten Tage. — Der arme Prediger, welcher anfangs alle Mittel ange- wendet hatte, dieſe Krankheit zu heilen, ſahe wohl ein, daß ſie nicht heilbar waͤre. Oft mußt er ihr ſogar die Bibel wegneh- men. Sie war nicht aus den Klagliedern Jere- D d 2

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/429>, abgerufen am 03.05.2024.