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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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leer. In den alten Liedern ist immer die
ganze weit und breite Brust, und in den
Melodien die ganze Lunge. Wenn auch
hier und da ein Paar Sylben überlaufen
-- was mehr? Wenn du dazu weinst,
Sänger! Sängerin! so läufst du auch
über.
Wer, wenn er singt, Triller schlagen und
Kadenzen springen kann, bringt dem lieben
Gott ein Ständchen, ehret ihn mit seiner Zun-
ge, und naht sich zu ihm mit seinen Lippen;
allein sein Herz ist fern von ihm. -- Dies
Lieblingslied Minens, da sie sang, da sie aus
ihres Vaters Hause und aus ihrer Freund-
schaft ausgieng in ein Land, das Gott ihr
zeigte, dies Lied, das sie mir so herzlich em-
pfahl, kann keinen bessern Vertheidiger, als
meine Mutter haben. Es konnte kein ange-
messeneres bey dieser Leiche gesungen werden,
und so das Lied, so die Rede! Der Prediger
hatte wenig oder nichts aufsetzen können.
Dies hätt' ich, wie es mir eben einfält, nicht
nöthig gehabt zu bemerken, nicht wahr? Es
versteht sich. --

Der Pastor wuste meiner Mutter Grund-
sätze, zu denen mein Vater den zweyten Discant
sang. Mine hatte diese Grundsätze auf- und
angenommen. Schon in den Tagen, von de-

nen
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leer. In den alten Liedern iſt immer die
ganze weit und breite Bruſt, und in den
Melodien die ganze Lunge. Wenn auch
hier und da ein Paar Sylben uͤberlaufen
— was mehr? Wenn du dazu weinſt,
Saͤnger! Saͤngerin! ſo laͤufſt du auch
uͤber.
Wer, wenn er ſingt, Triller ſchlagen und
Kadenzen ſpringen kann, bringt dem lieben
Gott ein Staͤndchen, ehret ihn mit ſeiner Zun-
ge, und naht ſich zu ihm mit ſeinen Lippen;
allein ſein Herz iſt fern von ihm. — Dies
Lieblingslied Minens, da ſie ſang, da ſie aus
ihres Vaters Hauſe und aus ihrer Freund-
ſchaft ausgieng in ein Land, das Gott ihr
zeigte, dies Lied, das ſie mir ſo herzlich em-
pfahl, kann keinen beſſern Vertheidiger, als
meine Mutter haben. Es konnte kein ange-
meſſeneres bey dieſer Leiche geſungen werden,
und ſo das Lied, ſo die Rede! Der Prediger
hatte wenig oder nichts aufſetzen koͤnnen.
Dies haͤtt’ ich, wie es mir eben einfaͤlt, nicht
noͤthig gehabt zu bemerken, nicht wahr? Es
verſteht ſich. —

Der Paſtor wuſte meiner Mutter Grund-
ſaͤtze, zu denen mein Vater den zweyten Diſcant
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nen
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[629/0643] leer. In den alten Liedern iſt immer die ganze weit und breite Bruſt, und in den Melodien die ganze Lunge. Wenn auch hier und da ein Paar Sylben uͤberlaufen — was mehr? Wenn du dazu weinſt, Saͤnger! Saͤngerin! ſo laͤufſt du auch uͤber. Wer, wenn er ſingt, Triller ſchlagen und Kadenzen ſpringen kann, bringt dem lieben Gott ein Staͤndchen, ehret ihn mit ſeiner Zun- ge, und naht ſich zu ihm mit ſeinen Lippen; allein ſein Herz iſt fern von ihm. — Dies Lieblingslied Minens, da ſie ſang, da ſie aus ihres Vaters Hauſe und aus ihrer Freund- ſchaft ausgieng in ein Land, das Gott ihr zeigte, dies Lied, das ſie mir ſo herzlich em- pfahl, kann keinen beſſern Vertheidiger, als meine Mutter haben. Es konnte kein ange- meſſeneres bey dieſer Leiche geſungen werden, und ſo das Lied, ſo die Rede! Der Prediger hatte wenig oder nichts aufſetzen koͤnnen. Dies haͤtt’ ich, wie es mir eben einfaͤlt, nicht noͤthig gehabt zu bemerken, nicht wahr? Es verſteht ſich. — Der Paſtor wuſte meiner Mutter Grund- ſaͤtze, zu denen mein Vater den zweyten Diſcant ſang. Mine hatte dieſe Grundſaͤtze auf- und angenommen. Schon in den Tagen, von de- nen R r 3

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/643>, abgerufen am 03.05.2024.