Holz, Arno: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich, 1886.Nicht immer noch Aus dem hölzernen Betstuhl der Kirche Querhin über den pfennigfeilschenden Markt Durch Seitengäßchen und Hinterpförtchen Nachts in das lampenerhellte Stübchen Der Dichter und Denker flüchten, Flüchten vor dem lauernden Schlangenblick Der kahlgeschorenen, glattrasirten Priester der Liebe? Und doch! Und doch!
Durchblättre das große, heilige Buch der Geschichte, Und du speist dir selbst in dein Lügengesicht, Wenn du, Schwächling, die Lästrung wagst: "Alles ist eitel! Die Welt dreht sich rückwärts!" Zwar die Bronceschwerter der Urzeit Sind nur die Ahnen ihrer Enkel gewesen, Der schlanken, stählernen Klingen der Neuzeit, Denn Ares, der Kriegsgott, Schüttelt sein schlangenlockiges Haupt Heut noch so wild wie zur Zeit des Homer: Doch wo sperrt noch heut Der assyrische Moloch der heidnischen Vorzeit Seinen feuerspeienden Rachen Hungrig nach Menschenfleisch auf? Wer schnürt wohl heut noch ein triefäugiges Weib, Blos weil es triefäugig ist, An den mittelalterlichen Brandpfahl? Nicht immer noch Aus dem hölzernen Betſtuhl der Kirche Querhin über den pfennigfeilſchenden Markt Durch Seitengäßchen und Hinterpförtchen Nachts in das lampenerhellte Stübchen Der Dichter und Denker flüchten, Flüchten vor dem lauernden Schlangenblick Der kahlgeſchorenen, glattraſirten Prieſter der Liebe? Und doch! Und doch!
Durchblättre das große, heilige Buch der Geſchichte, Und du ſpeiſt dir ſelbſt in dein Lügengeſicht, Wenn du, Schwächling, die Läſtrung wagſt: „Alles iſt eitel! Die Welt dreht ſich rückwärts!“ Zwar die Bronceſchwerter der Urzeit Sind nur die Ahnen ihrer Enkel geweſen, Der ſchlanken, ſtählernen Klingen der Neuzeit, Denn Ares, der Kriegsgott, Schüttelt ſein ſchlangenlockiges Haupt Heut noch ſo wild wie zur Zeit des Homer: Doch wo ſperrt noch heut Der aſſyriſche Moloch der heidniſchen Vorzeit Seinen feuerſpeienden Rachen Hungrig nach Menſchenfleiſch auf? Wer ſchnürt wohl heut noch ein triefäugiges Weib, Blos weil es triefäugig iſt, An den mittelalterlichen Brandpfahl? <TEI> <text> <body> <div> <lg type="poem"> <pb facs="#f0297" n="275"/> <lg n="31"> <l>Nicht immer noch</l><lb/> <l>Aus dem hölzernen Betſtuhl der Kirche</l><lb/> <l>Querhin über den pfennigfeilſchenden Markt</l><lb/> <l>Durch Seitengäßchen und Hinterpförtchen</l><lb/> <l>Nachts in das lampenerhellte Stübchen</l><lb/> <l>Der Dichter und Denker flüchten,</l><lb/> <l>Flüchten vor dem lauernden Schlangenblick</l><lb/> <l>Der kahlgeſchorenen, glattraſirten</l><lb/> <l>Prieſter der Liebe?</l><lb/> </lg> <lg n="32"> <l>Und doch! Und doch!</l><lb/> <l>Durchblättre das große, heilige Buch der Geſchichte,</l><lb/> <l>Und du ſpeiſt dir ſelbſt in dein Lügengeſicht,</l><lb/> <l>Wenn du, Schwächling, die Läſtrung wagſt:</l><lb/> <l>„Alles iſt eitel! Die Welt dreht ſich rückwärts!“</l><lb/> <l>Zwar die Bronceſchwerter der Urzeit</l><lb/> <l>Sind nur die Ahnen ihrer Enkel geweſen,</l><lb/> <l>Der ſchlanken, ſtählernen Klingen der Neuzeit,</l><lb/> <l>Denn Ares, der Kriegsgott,</l><lb/> <l>Schüttelt ſein ſchlangenlockiges Haupt</l><lb/> <l>Heut noch ſo wild wie zur Zeit des Homer:</l><lb/> <l>Doch wo ſperrt noch heut</l><lb/> <l>Der aſſyriſche Moloch der heidniſchen Vorzeit</l><lb/> <l>Seinen feuerſpeienden Rachen</l><lb/> <l>Hungrig nach Menſchenfleiſch auf?</l><lb/> <l>Wer ſchnürt wohl heut noch ein triefäugiges Weib,</l><lb/> <l>Blos weil es triefäugig iſt,</l><lb/> <l>An den mittelalterlichen Brandpfahl?</l><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [275/0297]
Nicht immer noch
Aus dem hölzernen Betſtuhl der Kirche
Querhin über den pfennigfeilſchenden Markt
Durch Seitengäßchen und Hinterpförtchen
Nachts in das lampenerhellte Stübchen
Der Dichter und Denker flüchten,
Flüchten vor dem lauernden Schlangenblick
Der kahlgeſchorenen, glattraſirten
Prieſter der Liebe?
Und doch! Und doch!
Durchblättre das große, heilige Buch der Geſchichte,
Und du ſpeiſt dir ſelbſt in dein Lügengeſicht,
Wenn du, Schwächling, die Läſtrung wagſt:
„Alles iſt eitel! Die Welt dreht ſich rückwärts!“
Zwar die Bronceſchwerter der Urzeit
Sind nur die Ahnen ihrer Enkel geweſen,
Der ſchlanken, ſtählernen Klingen der Neuzeit,
Denn Ares, der Kriegsgott,
Schüttelt ſein ſchlangenlockiges Haupt
Heut noch ſo wild wie zur Zeit des Homer:
Doch wo ſperrt noch heut
Der aſſyriſche Moloch der heidniſchen Vorzeit
Seinen feuerſpeienden Rachen
Hungrig nach Menſchenfleiſch auf?
Wer ſchnürt wohl heut noch ein triefäugiges Weib,
Blos weil es triefäugig iſt,
An den mittelalterlichen Brandpfahl?
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Zitationshilfe: | Holz, Arno: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich, 1886, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holz_buch_1886/297>, abgerufen am 16.06.2024. |