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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811.

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Chor und der Porkirche früher umwarf, wie das
Schiff, kann ich nicht begreifen, ihre Proportion
und Schönheit lassen aber die Wiederherstellung
des Ganzen sehr wünschen. Zu der Kirche gehö-
ren eine Zahl Canonikate oder Domherrnstellen,
die viel Ansehen genießen, und einige Einkünfte
gewähren. Das Stift wie die Kirche ist dem hei-
ligen Martin gewidmet; er prangt in einem Ge-
mählde des Saales, wo die Domherrn sich ver-
sammeln, und wurde uns noch in Stein gehauen
gezeigt, wie er in dem umgewehten Theil der
Kirche gestanden hat, jetzt aber einen Winkel des
Kreuzgangs bewohnt. Im Gange von der Kirche
in den Stiftssaal zeigte man uns ein in Holz ge-
schnitztes, neu mit Oehlfarbe angemahltes Bild-
niß oder Bildsäule eines berühmten Bettlers, die
Abzeichen seines Berufs, Fetzen und Schwären,
auf das natürlichste geschnitzt und gefärbt; er hält
einen Geldbeutel in der ausgestreckten Hand, so,
daß ich ihn vielmehr für einen Strauchdieb, als
einen Bittenden gehalten hätte. Dieser Mann
hatte sich in diesem elenden Zustande ein so ansehn-
liches Vermögen erworben, daß er bei seinem To-
de eine Stiftung machte, Kraft welcher -- ich
glaube wöchentlich? funfzig Armen ein Laib Brod

Chor und der Porkirche fruͤher umwarf, wie das
Schiff, kann ich nicht begreifen, ihre Proportion
und Schoͤnheit laſſen aber die Wiederherſtellung
des Ganzen ſehr wuͤnſchen. Zu der Kirche gehoͤ-
ren eine Zahl Canonikate oder Domherrnſtellen,
die viel Anſehen genießen, und einige Einkuͤnfte
gewaͤhren. Das Stift wie die Kirche iſt dem hei-
ligen Martin gewidmet; er prangt in einem Ge-
maͤhlde des Saales, wo die Domherrn ſich ver-
ſammeln, und wurde uns noch in Stein gehauen
gezeigt, wie er in dem umgewehten Theil der
Kirche geſtanden hat, jetzt aber einen Winkel des
Kreuzgangs bewohnt. Im Gange von der Kirche
in den Stiftsſaal zeigte man uns ein in Holz ge-
ſchnitztes, neu mit Oehlfarbe angemahltes Bild-
niß oder Bildſaͤule eines beruͤhmten Bettlers, die
Abzeichen ſeines Berufs, Fetzen und Schwaͤren,
auf das natuͤrlichſte geſchnitzt und gefaͤrbt; er haͤlt
einen Geldbeutel in der ausgeſtreckten Hand, ſo,
daß ich ihn vielmehr fuͤr einen Strauchdieb, als
einen Bittenden gehalten haͤtte. Dieſer Mann
hatte ſich in dieſem elenden Zuſtande ein ſo anſehn-
liches Vermoͤgen erworben, daß er bei ſeinem To-
de eine Stiftung machte, Kraft welcher — ich
glaube woͤchentlich? funfzig Armen ein Laib Brod

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[124/0138] Chor und der Porkirche fruͤher umwarf, wie das Schiff, kann ich nicht begreifen, ihre Proportion und Schoͤnheit laſſen aber die Wiederherſtellung des Ganzen ſehr wuͤnſchen. Zu der Kirche gehoͤ- ren eine Zahl Canonikate oder Domherrnſtellen, die viel Anſehen genießen, und einige Einkuͤnfte gewaͤhren. Das Stift wie die Kirche iſt dem hei- ligen Martin gewidmet; er prangt in einem Ge- maͤhlde des Saales, wo die Domherrn ſich ver- ſammeln, und wurde uns noch in Stein gehauen gezeigt, wie er in dem umgewehten Theil der Kirche geſtanden hat, jetzt aber einen Winkel des Kreuzgangs bewohnt. Im Gange von der Kirche in den Stiftsſaal zeigte man uns ein in Holz ge- ſchnitztes, neu mit Oehlfarbe angemahltes Bild- niß oder Bildſaͤule eines beruͤhmten Bettlers, die Abzeichen ſeines Berufs, Fetzen und Schwaͤren, auf das natuͤrlichſte geſchnitzt und gefaͤrbt; er haͤlt einen Geldbeutel in der ausgeſtreckten Hand, ſo, daß ich ihn vielmehr fuͤr einen Strauchdieb, als einen Bittenden gehalten haͤtte. Dieſer Mann hatte ſich in dieſem elenden Zuſtande ein ſo anſehn- liches Vermoͤgen erworben, daß er bei ſeinem To- de eine Stiftung machte, Kraft welcher — ich glaube woͤchentlich? funfzig Armen ein Laib Brod

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Zitationshilfe: Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/138>, abgerufen am 29.04.2024.