Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hübner, Johann: Poetisches Handbuch. Leipzig, 1696.

Bild:
<< vorherige Seite

me/ daß der Vers desto künstlicher ist. Daß
aber ein rechtschaffener Vers einen künstli-
chen Zwang an sich haben müsse/ das wil
ich mit der lateinischen Poesie beweisen.

XXXV. Denn wofern die Lateiner solche
Verse aestimirten/ die nur eine gewisse An-
zahl Sylben hätten/ welche sich in der Pro-
nunciation
gleichsam scandiren liessen/ so
würde nachfolgender Hexameter untadel-
hafftig seyn:

Breve Breve Breve Breve
In tenebris vaccae videntur singulae nigrae.

XXXVI. Weil aber ein jedweder Tertia-
ner solche Verse würde machen können/ so
hat man ein General-Gesetze gemacht/ daß
kein Vers soll aestimiret werden/ welcher
nicht die quantität der Sylben in acht nimmt.

XXXVII. Jndem nun von der deutschen
Prosodie kein sonderliches Wesen zu ma-
chen ist/ so muß man die Kunst entweder an
den Reimen sehen lassen/ oder ein jedweder
Handwercks-Pursche wird capable seyn/
ein Carmen zu schreiben.

XXXVIII. Jch wil mich wiederum an ei-
nem schlechten Exempel legitimiren. Jch
wüste nicht was mir an dem folgenden
Verse gefallen solte/ wenn ich das darunter
verborgene morale ausnehme:

Wie mancher courtisirt ietzunder
Und ruiniret die Natur:
Her-

me/ daß der Vers deſto kuͤnſtlicher iſt. Daß
aber ein rechtſchaffener Vers einen kuͤnſtli-
chen Zwang an ſich haben muͤſſe/ das wil
ich mit der lateiniſchen Poeſie beweiſen.

XXXV. Denn wofern die Lateiner ſolche
Verſe æſtimirten/ die nur eine gewiſſe An-
zahl Sylben haͤtten/ welche ſich in der Pro-
nunciation
gleichſam ſcandiren lieſſen/ ſo
wuͤrde nachfolgender Hexameter untadel-
hafftig ſeyn:

̅ ⏑ ⏑ ̅ ̅ ̅ ̅ ̅ ̅ ̅ ⏑ ⏑ ̅ ̅
In tenebris vaccæ videntur ſingulæ nigræ.

XXXVI. Weil aber ein jedweder Tertia-
ner ſolche Verſe wuͤrde machen koͤnnen/ ſo
hat man ein General-Geſetze gemacht/ daß
kein Vers ſoll æſtimiret werden/ welcher
nicht die quantitaͤt der Sylben in acht nim̃t.

XXXVII. Jndem nun von der deutſchen
Proſodie kein ſonderliches Weſen zu ma-
chen iſt/ ſo muß man die Kunſt entweder an
den Reimen ſehen laſſen/ oder ein jedweder
Handwercks-Purſche wird capable ſeyn/
ein Carmen zu ſchreiben.

XXXVIII. Jch wil mich wiederum an ei-
nem ſchlechten Exempel legitimiren. Jch
wuͤſte nicht was mir an dem folgenden
Verſe gefallen ſolte/ wenn ich das darunter
verborgene morale ausnehme:

Wie mancher courtiſirt ietzunder
Und ruiniret die Natur:
Her-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="22"/>
me/ daß der Vers de&#x017F;to ku&#x0364;n&#x017F;tlicher i&#x017F;t. Daß<lb/>
aber ein recht&#x017F;chaffener Vers einen ku&#x0364;n&#x017F;tli-<lb/>
chen Zwang an &#x017F;ich haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e/ das wil<lb/>
ich mit der lateini&#x017F;chen Poe&#x017F;ie bewei&#x017F;en.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#aq">XXXV.</hi> Denn wofern die Lateiner &#x017F;olche<lb/>
Ver&#x017F;e <hi rendition="#aq">æ&#x017F;timir</hi>ten/ die nur eine gewi&#x017F;&#x017F;e An-<lb/>
zahl Sylben ha&#x0364;tten/ welche &#x017F;ich in der <hi rendition="#aq">Pro-<lb/>
nunciation</hi> gleich&#x017F;am <hi rendition="#aq">&#x017F;candi</hi>ren lie&#x017F;&#x017F;en/ &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rde nachfolgender <hi rendition="#aq">Hexameter</hi> untadel-<lb/>
hafftig &#x017F;eyn:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x0305; &#x23D1; &#x23D1; &#x0305; &#x0305; &#x0305; &#x0305; &#x0305; &#x0305; &#x0305; &#x23D1; &#x23D1; &#x0305; &#x0305;</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">In tenebris vaccæ videntur &#x017F;ingulæ nigræ.</hi> </l>
        </lg><lb/>
        <p><hi rendition="#aq">XXXVI.</hi> Weil aber ein jedweder <hi rendition="#aq">Tertia</hi>-<lb/>
ner &#x017F;olche Ver&#x017F;e wu&#x0364;rde machen ko&#x0364;nnen/ &#x017F;o<lb/>
hat man ein <hi rendition="#aq">General</hi>-Ge&#x017F;etze gemacht/ daß<lb/>
kein Vers &#x017F;oll <hi rendition="#aq">æ&#x017F;timi</hi>ret werden/ welcher<lb/>
nicht die <hi rendition="#aq">quanti</hi>ta&#x0364;t der Sylben in acht nim&#x0303;t.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#aq">XXXVII.</hi> Jndem nun von der deut&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#aq">Pro&#x017F;odie</hi> kein &#x017F;onderliches We&#x017F;en zu ma-<lb/>
chen i&#x017F;t/ &#x017F;o muß man die Kun&#x017F;t entweder an<lb/>
den Reimen &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en/ oder ein jedweder<lb/>
Handwercks-Pur&#x017F;che wird <hi rendition="#aq">capable</hi> &#x017F;eyn/<lb/>
ein <hi rendition="#aq">Carmen</hi> zu &#x017F;chreiben.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#aq">XXXVIII.</hi> Jch wil mich wiederum an ei-<lb/>
nem &#x017F;chlechten Exempel <hi rendition="#aq">legitimi</hi>ren. Jch<lb/>
wu&#x0364;&#x017F;te nicht was mir an dem folgenden<lb/>
Ver&#x017F;e gefallen &#x017F;olte/ wenn ich das darunter<lb/>
verborgene <hi rendition="#aq">morale</hi> ausnehme:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>Wie mancher <hi rendition="#aq">courti&#x017F;i</hi>rt ietzunder</l><lb/>
          <l>Und <hi rendition="#aq">ruini</hi>ret die Natur:</l><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Her-</fw><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0026] me/ daß der Vers deſto kuͤnſtlicher iſt. Daß aber ein rechtſchaffener Vers einen kuͤnſtli- chen Zwang an ſich haben muͤſſe/ das wil ich mit der lateiniſchen Poeſie beweiſen. XXXV. Denn wofern die Lateiner ſolche Verſe æſtimirten/ die nur eine gewiſſe An- zahl Sylben haͤtten/ welche ſich in der Pro- nunciation gleichſam ſcandiren lieſſen/ ſo wuͤrde nachfolgender Hexameter untadel- hafftig ſeyn: ̅ ⏑ ⏑ ̅ ̅ ̅ ̅ ̅ ̅ ̅ ⏑ ⏑ ̅ ̅ In tenebris vaccæ videntur ſingulæ nigræ. XXXVI. Weil aber ein jedweder Tertia- ner ſolche Verſe wuͤrde machen koͤnnen/ ſo hat man ein General-Geſetze gemacht/ daß kein Vers ſoll æſtimiret werden/ welcher nicht die quantitaͤt der Sylben in acht nim̃t. XXXVII. Jndem nun von der deutſchen Proſodie kein ſonderliches Weſen zu ma- chen iſt/ ſo muß man die Kunſt entweder an den Reimen ſehen laſſen/ oder ein jedweder Handwercks-Purſche wird capable ſeyn/ ein Carmen zu ſchreiben. XXXVIII. Jch wil mich wiederum an ei- nem ſchlechten Exempel legitimiren. Jch wuͤſte nicht was mir an dem folgenden Verſe gefallen ſolte/ wenn ich das darunter verborgene morale ausnehme: Wie mancher courtiſirt ietzunder Und ruiniret die Natur: Her-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/huebner_handbuch_1696
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/huebner_handbuch_1696/26
Zitationshilfe: Hübner, Johann: Poetisches Handbuch. Leipzig, 1696, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huebner_handbuch_1696/26>, abgerufen am 29.04.2024.