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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Madeira eigentümlich, unter anderen Mocanera, Plocama,
Bosea, Canarina, Drusa, Pittosporum.
Ein Typus, der
sich als ein nördlicher ansprechen läßt, der der Kreuzblüten, 1
ist auf den Kanarien schon weit seltener als in Spanien und
Griechenland. Weiter nach Süden, im tropischen Landstrich
beider Kontinente, wo die mittlere Lufttemperatur über 22°
ist, verschwinden die Kreuzblüten fast gänzlich.

Eine Frage, die für die Geschichte der fortschreitenden
Entwickelung des organischen Lebens auf dem Erdball von
großer Bedeutung erscheint, ist in neuerer Zeit viel besprochen
worden, nämlich, ob polymorphe Gewächse auf vulkanischen Inseln
häufiger sind als anderswo? Die Vegetation von Tenerifa
unterstützt keineswegs die Annahme, daß die Natur auf neu-
gebildetem Boden die Pflanzenformen weniger streng festhält.
Broussonet, der sich so lange auf den Kanarien aufgehalten,
versichert, veränderliche Gewächse seien nicht häufiger als im
südlichen Europa. Wenn auf der Insel Bourbon so viele
polymorphe Arten vorkommen, sollte dies nicht vielmehr von
der Beschaffenheit des Bodens und des Klimas herrühren,
als davon, daß die Vegetation jung ist?

Wohl darf ich mir schmeicheln, mit dieser Naturskizze
von Tenerifa einiges Licht über Gegenstände verbreitet zu
haben, die bereits von so vielen Reisenden besprochen worden
sind; indessen glaube ich, daß die Naturgeschichte dieses Archi-
pels der Forschung noch ein weites Feld darbietet. Die Leiter
der wissenschaftlichen Entdeckungsfahrten, wie sie England,
Frankreich, Spanien, Dänemark und Rußland zu ihrem Ruhme
unternommen, haben meist zu sehr geeilt, von den Kanarien
wegzukommen. Sie dachten, da diese Inseln so nahe bei
Europa liegen, müßten sie genau beschrieben sein; sie haben
vergessen, daß das Innere von Neuholland geologisch nicht
unbekannter ist als die Gebirgsarten von Lanzarote und Go-
mera, Porto Santo und Terceira. So viele Gelehrte bereisen
Jahr für Jahr ohne bestimmten Zweck die besuchtesten Länder
Europas. Es wäre wünschenswert, daß einer und der andere,
den echte Liebe zur Wissenschaft beseelt und dem die Verhält-
nisse eine mehrjährige Reise gestatten, den Archipel der Azoren,
Madeira, die Kanarien, die Inseln des grünen Vorgebirges

1 Von den wenigen Cruciferen in der Flora von Tenerifa
führen wir an: Cheiranthus longifolius, Ch. frutescens, Ch.
scoparis, Erysimum bicorne, Crambe strigosa, C. laevigata.

Madeira eigentümlich, unter anderen Mocanera, Plocama,
Bosea, Canarina, Drusa, Pittosporum.
Ein Typus, der
ſich als ein nördlicher anſprechen läßt, der der Kreuzblüten, 1
iſt auf den Kanarien ſchon weit ſeltener als in Spanien und
Griechenland. Weiter nach Süden, im tropiſchen Landſtrich
beider Kontinente, wo die mittlere Lufttemperatur über 22°
iſt, verſchwinden die Kreuzblüten faſt gänzlich.

Eine Frage, die für die Geſchichte der fortſchreitenden
Entwickelung des organiſchen Lebens auf dem Erdball von
großer Bedeutung erſcheint, iſt in neuerer Zeit viel beſprochen
worden, nämlich, ob polymorphe Gewächſe auf vulkaniſchen Inſeln
häufiger ſind als anderswo? Die Vegetation von Tenerifa
unterſtützt keineswegs die Annahme, daß die Natur auf neu-
gebildetem Boden die Pflanzenformen weniger ſtreng feſthält.
Brouſſonet, der ſich ſo lange auf den Kanarien aufgehalten,
verſichert, veränderliche Gewächſe ſeien nicht häufiger als im
ſüdlichen Europa. Wenn auf der Inſel Bourbon ſo viele
polymorphe Arten vorkommen, ſollte dies nicht vielmehr von
der Beſchaffenheit des Bodens und des Klimas herrühren,
als davon, daß die Vegetation jung iſt?

Wohl darf ich mir ſchmeicheln, mit dieſer Naturſkizze
von Tenerifa einiges Licht über Gegenſtände verbreitet zu
haben, die bereits von ſo vielen Reiſenden beſprochen worden
ſind; indeſſen glaube ich, daß die Naturgeſchichte dieſes Archi-
pels der Forſchung noch ein weites Feld darbietet. Die Leiter
der wiſſenſchaftlichen Entdeckungsfahrten, wie ſie England,
Frankreich, Spanien, Dänemark und Rußland zu ihrem Ruhme
unternommen, haben meiſt zu ſehr geeilt, von den Kanarien
wegzukommen. Sie dachten, da dieſe Inſeln ſo nahe bei
Europa liegen, müßten ſie genau beſchrieben ſein; ſie haben
vergeſſen, daß das Innere von Neuholland geologiſch nicht
unbekannter iſt als die Gebirgsarten von Lanzarote und Go-
mera, Porto Santo und Terceira. So viele Gelehrte bereiſen
Jahr für Jahr ohne beſtimmten Zweck die beſuchteſten Länder
Europas. Es wäre wünſchenswert, daß einer und der andere,
den echte Liebe zur Wiſſenſchaft beſeelt und dem die Verhält-
niſſe eine mehrjährige Reiſe geſtatten, den Archipel der Azoren,
Madeira, die Kanarien, die Inſeln des grünen Vorgebirges

1 Von den wenigen Cruciferen in der Flora von Tenerifa
führen wir an: Cheiranthus longifolius, Ch. frutescens, Ch.
scoparis, Erysimum bicorne, Crambe strigosa, C. laevigata.
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[116/0132] Madeira eigentümlich, unter anderen Mocanera, Plocama, Bosea, Canarina, Drusa, Pittosporum. Ein Typus, der ſich als ein nördlicher anſprechen läßt, der der Kreuzblüten, 1 iſt auf den Kanarien ſchon weit ſeltener als in Spanien und Griechenland. Weiter nach Süden, im tropiſchen Landſtrich beider Kontinente, wo die mittlere Lufttemperatur über 22° iſt, verſchwinden die Kreuzblüten faſt gänzlich. Eine Frage, die für die Geſchichte der fortſchreitenden Entwickelung des organiſchen Lebens auf dem Erdball von großer Bedeutung erſcheint, iſt in neuerer Zeit viel beſprochen worden, nämlich, ob polymorphe Gewächſe auf vulkaniſchen Inſeln häufiger ſind als anderswo? Die Vegetation von Tenerifa unterſtützt keineswegs die Annahme, daß die Natur auf neu- gebildetem Boden die Pflanzenformen weniger ſtreng feſthält. Brouſſonet, der ſich ſo lange auf den Kanarien aufgehalten, verſichert, veränderliche Gewächſe ſeien nicht häufiger als im ſüdlichen Europa. Wenn auf der Inſel Bourbon ſo viele polymorphe Arten vorkommen, ſollte dies nicht vielmehr von der Beſchaffenheit des Bodens und des Klimas herrühren, als davon, daß die Vegetation jung iſt? Wohl darf ich mir ſchmeicheln, mit dieſer Naturſkizze von Tenerifa einiges Licht über Gegenſtände verbreitet zu haben, die bereits von ſo vielen Reiſenden beſprochen worden ſind; indeſſen glaube ich, daß die Naturgeſchichte dieſes Archi- pels der Forſchung noch ein weites Feld darbietet. Die Leiter der wiſſenſchaftlichen Entdeckungsfahrten, wie ſie England, Frankreich, Spanien, Dänemark und Rußland zu ihrem Ruhme unternommen, haben meiſt zu ſehr geeilt, von den Kanarien wegzukommen. Sie dachten, da dieſe Inſeln ſo nahe bei Europa liegen, müßten ſie genau beſchrieben ſein; ſie haben vergeſſen, daß das Innere von Neuholland geologiſch nicht unbekannter iſt als die Gebirgsarten von Lanzarote und Go- mera, Porto Santo und Terceira. So viele Gelehrte bereiſen Jahr für Jahr ohne beſtimmten Zweck die beſuchteſten Länder Europas. Es wäre wünſchenswert, daß einer und der andere, den echte Liebe zur Wiſſenſchaft beſeelt und dem die Verhält- niſſe eine mehrjährige Reiſe geſtatten, den Archipel der Azoren, Madeira, die Kanarien, die Inſeln des grünen Vorgebirges 1 Von den wenigen Cruciferen in der Flora von Tenerifa führen wir an: Cheiranthus longifolius, Ch. frutescens, Ch. scoparis, Erysimum bicorne, Crambe strigosa, C. laevigata.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/132>, abgerufen am 30.04.2024.