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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Völkerstämme, die auf den Grasfluren und in den Wäldern
von Südamerika herumziehen, haben aus den Vorzügen ihres
Bodens und den Verzweigungen ihrer Flüsse gar wenig
Nutzen gezogen. Die Einfälle der Kariben, die weither den
Orinoko, den Cassiquiare und Rio Negro heraufkamen, um
Sklaven zu rauben, rüttelten ein paar versunkene Völker-
schaften aus ihrer Trägheit auf und zwangen sie, Vereine zur
gemeinsamen Verteidigung zu bilden; aber das wenige Gute,
das diese Kriege mit den Kariben (den Beduinen der Ströme
Guyanas) mit sich gebracht, war ein schlechter Ersatz für die
Uebel, die sie zur Folge hatten, Verwilderung der Sitten
und Verminderung der Bevölkerung. Unzweifelhaft hat die
Terrainbildung Griechenlands, die mannigfaltige Gestaltung
des Landes, seine Zerteilung durch kleine Bergketten und
Busen des Mittelmeeres, in den Anfängen der Kultur die
geistige Entwickelung der Hellenen bedeutend gefördert. Aber
dieser Einfluß des Klimas und der Bodenbildung äußert
sich nur da in seiner ganzen Stärke, wo Menschenstämme
mit glücklicher Begabung nach Geist und Gemüt einen An-
stoß von außen erhalten. Gewinnt man einen Ueberblick
über die Geschichte unseres Geschlechtes, so sieht man diese
Mittelpunkte antiker Kultur da und dort gleich Lichtpunkten
über den Erdball verstreut, und gewahrt mit Ueberraschung,
wie ungleich die Gesittung unter den Völkern ist, die fast
unter demselben Himmelsstriche wohnen und über deren
Wohnsitze scheinbar die Natur dieselben Segnungen ver-
breitet hat.

Seit ich den Orinoko und den Amazonenstrom verlassen
habe, bereitet sich für die gesellschaftlichen Verhältnisse der
Völker des Occidents eine neue Aera vor. Auf den Jammer
der bürgerlichen Zwiste werden die Segnungen des Friedens
und eine freiere Entwickelung aller Gewerbthätigkeit folgen.
Da wird denn die europäische Handelswelt jene Gabelteilung
des Orinoko, jene Landenge am Tuamini, durch die so leicht
ein künstlicher Kanal zu ziehen ist, ins Auge fassen. Da
wird der Cassiquiare, ein Strom, so breit wie der Rhein
und 330 km lang, nicht mehr umsonst eine schiffbare Linie
zwischen zwei Strombecken bilden, die 3 850 000 qkm Ober-
fläche haben. Das Getreide aus Neugranada wird an die
Ufer des Rio Negro kommen, von den Quellen des Napo
und des Ucayale, von den Anden von Quito und Oberperu
wird man zur Mündung des Orinoko hinabfahren, und dies

Völkerſtämme, die auf den Grasfluren und in den Wäldern
von Südamerika herumziehen, haben aus den Vorzügen ihres
Bodens und den Verzweigungen ihrer Flüſſe gar wenig
Nutzen gezogen. Die Einfälle der Kariben, die weither den
Orinoko, den Caſſiquiare und Rio Negro heraufkamen, um
Sklaven zu rauben, rüttelten ein paar verſunkene Völker-
ſchaften aus ihrer Trägheit auf und zwangen ſie, Vereine zur
gemeinſamen Verteidigung zu bilden; aber das wenige Gute,
das dieſe Kriege mit den Kariben (den Beduinen der Ströme
Guyanas) mit ſich gebracht, war ein ſchlechter Erſatz für die
Uebel, die ſie zur Folge hatten, Verwilderung der Sitten
und Verminderung der Bevölkerung. Unzweifelhaft hat die
Terrainbildung Griechenlands, die mannigfaltige Geſtaltung
des Landes, ſeine Zerteilung durch kleine Bergketten und
Buſen des Mittelmeeres, in den Anfängen der Kultur die
geiſtige Entwickelung der Hellenen bedeutend gefördert. Aber
dieſer Einfluß des Klimas und der Bodenbildung äußert
ſich nur da in ſeiner ganzen Stärke, wo Menſchenſtämme
mit glücklicher Begabung nach Geiſt und Gemüt einen An-
ſtoß von außen erhalten. Gewinnt man einen Ueberblick
über die Geſchichte unſeres Geſchlechtes, ſo ſieht man dieſe
Mittelpunkte antiker Kultur da und dort gleich Lichtpunkten
über den Erdball verſtreut, und gewahrt mit Ueberraſchung,
wie ungleich die Geſittung unter den Völkern iſt, die faſt
unter demſelben Himmelsſtriche wohnen und über deren
Wohnſitze ſcheinbar die Natur dieſelben Segnungen ver-
breitet hat.

Seit ich den Orinoko und den Amazonenſtrom verlaſſen
habe, bereitet ſich für die geſellſchaftlichen Verhältniſſe der
Völker des Occidents eine neue Aera vor. Auf den Jammer
der bürgerlichen Zwiſte werden die Segnungen des Friedens
und eine freiere Entwickelung aller Gewerbthätigkeit folgen.
Da wird denn die europäiſche Handelswelt jene Gabelteilung
des Orinoko, jene Landenge am Tuamini, durch die ſo leicht
ein künſtlicher Kanal zu ziehen iſt, ins Auge faſſen. Da
wird der Caſſiquiare, ein Strom, ſo breit wie der Rhein
und 330 km lang, nicht mehr umſonſt eine ſchiffbare Linie
zwiſchen zwei Strombecken bilden, die 3 850 000 qkm Ober-
fläche haben. Das Getreide aus Neugranada wird an die
Ufer des Rio Negro kommen, von den Quellen des Napo
und des Ucayale, von den Anden von Quito und Oberperu
wird man zur Mündung des Orinoko hinabfahren, und dies

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[52/0060] Völkerſtämme, die auf den Grasfluren und in den Wäldern von Südamerika herumziehen, haben aus den Vorzügen ihres Bodens und den Verzweigungen ihrer Flüſſe gar wenig Nutzen gezogen. Die Einfälle der Kariben, die weither den Orinoko, den Caſſiquiare und Rio Negro heraufkamen, um Sklaven zu rauben, rüttelten ein paar verſunkene Völker- ſchaften aus ihrer Trägheit auf und zwangen ſie, Vereine zur gemeinſamen Verteidigung zu bilden; aber das wenige Gute, das dieſe Kriege mit den Kariben (den Beduinen der Ströme Guyanas) mit ſich gebracht, war ein ſchlechter Erſatz für die Uebel, die ſie zur Folge hatten, Verwilderung der Sitten und Verminderung der Bevölkerung. Unzweifelhaft hat die Terrainbildung Griechenlands, die mannigfaltige Geſtaltung des Landes, ſeine Zerteilung durch kleine Bergketten und Buſen des Mittelmeeres, in den Anfängen der Kultur die geiſtige Entwickelung der Hellenen bedeutend gefördert. Aber dieſer Einfluß des Klimas und der Bodenbildung äußert ſich nur da in ſeiner ganzen Stärke, wo Menſchenſtämme mit glücklicher Begabung nach Geiſt und Gemüt einen An- ſtoß von außen erhalten. Gewinnt man einen Ueberblick über die Geſchichte unſeres Geſchlechtes, ſo ſieht man dieſe Mittelpunkte antiker Kultur da und dort gleich Lichtpunkten über den Erdball verſtreut, und gewahrt mit Ueberraſchung, wie ungleich die Geſittung unter den Völkern iſt, die faſt unter demſelben Himmelsſtriche wohnen und über deren Wohnſitze ſcheinbar die Natur dieſelben Segnungen ver- breitet hat. Seit ich den Orinoko und den Amazonenſtrom verlaſſen habe, bereitet ſich für die geſellſchaftlichen Verhältniſſe der Völker des Occidents eine neue Aera vor. Auf den Jammer der bürgerlichen Zwiſte werden die Segnungen des Friedens und eine freiere Entwickelung aller Gewerbthätigkeit folgen. Da wird denn die europäiſche Handelswelt jene Gabelteilung des Orinoko, jene Landenge am Tuamini, durch die ſo leicht ein künſtlicher Kanal zu ziehen iſt, ins Auge faſſen. Da wird der Caſſiquiare, ein Strom, ſo breit wie der Rhein und 330 km lang, nicht mehr umſonſt eine ſchiffbare Linie zwiſchen zwei Strombecken bilden, die 3 850 000 qkm Ober- fläche haben. Das Getreide aus Neugranada wird an die Ufer des Rio Negro kommen, von den Quellen des Napo und des Ucayale, von den Anden von Quito und Oberperu wird man zur Mündung des Orinoko hinabfahren, und dies

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/60>, abgerufen am 03.05.2024.