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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845.

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Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindrucksreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüth errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft. Will man aber aus der objectiven Verschiedenheit der Erscheinungen die Stärke des Totalgefühls erklären, so muß man sondernd in das Reich bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte hinabsteigen. Den mannigfaltigsten und reichsten Stoff für diese Art der Betrachtungen gewährt die landschaftliche Natur im südlichen Asien oder im Neuen Continent, da wo hohe Gebirgsmassen den Boden des Luftmeers bilden und wo dieselben vulkanischen Mächte, welche einst die lange Andesmauer aus tiefen Erdspalten emporgehoben, jetzt noch ihr Werk zum Schrecken der Anwohner oft erschüttern.

Naturgemälde, nach leitenden Ideen an einander gereihet, sind nicht allein dazu bestimmt unseren Geist angenehm zu beschäftigen; ihre Reihenfolge kann auch die Graduation der Natureindrücke bezeichnen, deren allmälig gesteigerten Intensität wir aus der einförmigen Leere pflanzenloser Ebenen bis zu der üppigen Blüthenfülle der heißen Zone gefolgt sind. Wenn man als ein Spiel der Phantasie den Pilatus auf das Schreckhorn2, oder unsere Sudetische Schneekoppe auf den Montblanc aufthürmt, so hat man noch nicht eine der größten Höhen der Andeskette, den Chimborazo, die doppelte Höhe des Aetna erreicht; wenn man auf den Chimborazo den Rigi oder den Athos thürmt, so schaffen wir uns ein Bild von dem höchsten Gipfel des

Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindrucksreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüth errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft. Will man aber aus der objectiven Verschiedenheit der Erscheinungen die Stärke des Totalgefühls erklären, so muß man sondernd in das Reich bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte hinabsteigen. Den mannigfaltigsten und reichsten Stoff für diese Art der Betrachtungen gewährt die landschaftliche Natur im südlichen Asien oder im Neuen Continent, da wo hohe Gebirgsmassen den Boden des Luftmeers bilden und wo dieselben vulkanischen Mächte, welche einst die lange Andesmauer aus tiefen Erdspalten emporgehoben, jetzt noch ihr Werk zum Schrecken der Anwohner oft erschüttern.

Naturgemälde, nach leitenden Ideen an einander gereihet, sind nicht allein dazu bestimmt unseren Geist angenehm zu beschäftigen; ihre Reihenfolge kann auch die Graduation der Natureindrücke bezeichnen, deren allmälig gesteigerten Intensität wir aus der einförmigen Leere pflanzenloser Ebenen bis zu der üppigen Blüthenfülle der heißen Zone gefolgt sind. Wenn man als ein Spiel der Phantasie den Pilatus auf das Schreckhorn2, oder unsere Sudetische Schneekoppe auf den Montblanc aufthürmt, so hat man noch nicht eine der größten Höhen der Andeskette, den Chimborazo, die doppelte Höhe des Aetna erreicht; wenn man auf den Chimborazo den Rigi oder den Athos thürmt, so schaffen wir uns ein Bild von dem höchsten Gipfel des

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[10/0029] Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindrucksreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüth errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft. Will man aber aus der objectiven Verschiedenheit der Erscheinungen die Stärke des Totalgefühls erklären, so muß man sondernd in das Reich bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte hinabsteigen. Den mannigfaltigsten und reichsten Stoff für diese Art der Betrachtungen gewährt die landschaftliche Natur im südlichen Asien oder im Neuen Continent, da wo hohe Gebirgsmassen den Boden des Luftmeers bilden und wo dieselben vulkanischen Mächte, welche einst die lange Andesmauer aus tiefen Erdspalten emporgehoben, jetzt noch ihr Werk zum Schrecken der Anwohner oft erschüttern. Naturgemälde, nach leitenden Ideen an einander gereihet, sind nicht allein dazu bestimmt unseren Geist angenehm zu beschäftigen; ihre Reihenfolge kann auch die Graduation der Natureindrücke bezeichnen, deren allmälig gesteigerten Intensität wir aus der einförmigen Leere pflanzenloser Ebenen bis zu der üppigen Blüthenfülle der heißen Zone gefolgt sind. Wenn man als ein Spiel der Phantasie den Pilatus auf das Schreckhorn ² , oder unsere Sudetische Schneekoppe auf den Montblanc aufthürmt, so hat man noch nicht eine der größten Höhen der Andeskette, den Chimborazo, die doppelte Höhe des Aetna erreicht; wenn man auf den Chimborazo den Rigi oder den Athos thürmt, so schaffen wir uns ein Bild von dem höchsten Gipfel des

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845/29>, abgerufen am 26.04.2024.