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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

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nach Entdeckungen in fernen Räumen. Jene freien Selbstdenker bildeten eine Reihe, welche im Mittelalter mit Duns Scotus, Wilhelm von Occam und Nicolaus von Cusa anhebt und durch Ramus, Campanella und Giordano Bruno bis zu Descartes leitet.39

Die unübersteiglich scheinende "Kluft zwischen dem Denken und dem Sein, die Beziehungen zwischen der erkennenden Seele und dem erkannten Gegenstande" trennten die Dialectiker in jene zwei berühmten Schulen der Realisten und Nominalisten. Des fast vergessenen Kampfes dieser mittelalterlichen Schulen muß hier gedacht werden, weil er einen wesentlichen Einfluß auf die endliche Begründung der Erfahrungswissenschaften ausgeübt hat. Die Nominalisten, welche den allgemeinen Begriffen nur ein subjectives Dasein in dem menschlichen Vorstellungsvermögen zugestanden, wurden nach vielen Schwankungen zuletzt im 14ten und 15ten Jahrhundert die siegreiche Parthei. Bei ihrer größeren Abneigung vor leeren Abstractionen drangen sie zuerst auf die Nothwendigkeit der Erfahrung, auf die Vermehrung der sinnlichen Grundlage der Erkenntniß. Eine solche Richtung wirkte wenigstens mittelbar auf die Bearbeitung des empirischen Naturwissens; aber auch schon da, wo sich nur noch realistische Ansichten geltend machten, hatte die Bekanntschaft mit der Litteratur der Araber Liebe zum Naturwissen, in glücklichem Kampfe mit der alles absorbirenden Theologie, verbreitet. So sehen wir in den verschiedenen Perioden des Mittelalters, dem man vielleicht eine zu große Charakter-Einheit zuzuschreiben gewohnt ist, auf ganz verschiedenen Wegen, auf rein ideellen und empirischen, das große Werk der Entdeckungen im Erdraume und die

nach Entdeckungen in fernen Räumen. Jene freien Selbstdenker bildeten eine Reihe, welche im Mittelalter mit Duns Scotus, Wilhelm von Occam und Nicolaus von Cusa anhebt und durch Ramus, Campanella und Giordano Bruno bis zu Descartes leitet.39

Die unübersteiglich scheinende „Kluft zwischen dem Denken und dem Sein, die Beziehungen zwischen der erkennenden Seele und dem erkannten Gegenstande" trennten die Dialectiker in jene zwei berühmten Schulen der Realisten und Nominalisten. Des fast vergessenen Kampfes dieser mittelalterlichen Schulen muß hier gedacht werden, weil er einen wesentlichen Einfluß auf die endliche Begründung der Erfahrungswissenschaften ausgeübt hat. Die Nominalisten, welche den allgemeinen Begriffen nur ein subjectives Dasein in dem menschlichen Vorstellungsvermögen zugestanden, wurden nach vielen Schwankungen zuletzt im 14ten und 15ten Jahrhundert die siegreiche Parthei. Bei ihrer größeren Abneigung vor leeren Abstractionen drangen sie zuerst auf die Nothwendigkeit der Erfahrung, auf die Vermehrung der sinnlichen Grundlage der Erkenntniß. Eine solche Richtung wirkte wenigstens mittelbar auf die Bearbeitung des empirischen Naturwissens; aber auch schon da, wo sich nur noch realistische Ansichten geltend machten, hatte die Bekanntschaft mit der Litteratur der Araber Liebe zum Naturwissen, in glücklichem Kampfe mit der alles absorbirenden Theologie, verbreitet. So sehen wir in den verschiedenen Perioden des Mittelalters, dem man vielleicht eine zu große Charakter-Einheit zuzuschreiben gewohnt ist, auf ganz verschiedenen Wegen, auf rein ideellen und empirischen, das große Werk der Entdeckungen im Erdraume und die

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[282/0287] nach Entdeckungen in fernen Räumen. Jene freien Selbstdenker bildeten eine Reihe, welche im Mittelalter mit Duns Scotus, Wilhelm von Occam und Nicolaus von Cusa anhebt und durch Ramus, Campanella und Giordano Bruno bis zu Descartes leitet. ³⁹ Die unübersteiglich scheinende „Kluft zwischen dem Denken und dem Sein, die Beziehungen zwischen der erkennenden Seele und dem erkannten Gegenstande" trennten die Dialectiker in jene zwei berühmten Schulen der Realisten und Nominalisten. Des fast vergessenen Kampfes dieser mittelalterlichen Schulen muß hier gedacht werden, weil er einen wesentlichen Einfluß auf die endliche Begründung der Erfahrungswissenschaften ausgeübt hat. Die Nominalisten, welche den allgemeinen Begriffen nur ein subjectives Dasein in dem menschlichen Vorstellungsvermögen zugestanden, wurden nach vielen Schwankungen zuletzt im 14ten und 15ten Jahrhundert die siegreiche Parthei. Bei ihrer größeren Abneigung vor leeren Abstractionen drangen sie zuerst auf die Nothwendigkeit der Erfahrung, auf die Vermehrung der sinnlichen Grundlage der Erkenntniß. Eine solche Richtung wirkte wenigstens mittelbar auf die Bearbeitung des empirischen Naturwissens; aber auch schon da, wo sich nur noch realistische Ansichten geltend machten, hatte die Bekanntschaft mit der Litteratur der Araber Liebe zum Naturwissen, in glücklichem Kampfe mit der alles absorbirenden Theologie, verbreitet. So sehen wir in den verschiedenen Perioden des Mittelalters, dem man vielleicht eine zu große Charakter-Einheit zuzuschreiben gewohnt ist, auf ganz verschiedenen Wegen, auf rein ideellen und empirischen, das große Werk der Entdeckungen im Erdraume und die

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/287>, abgerufen am 30.04.2024.