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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

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tungen und Gemüthsbewegung der Handelnden Landschaft und Natur, daß wir sie vor uns zu sehen glauben und in ihr zu leben scheinen. So leben wir in der Sommernacht im Walde, sehen wir in den letzten Scenen des Kaufmann von Venedig den Mondschein, welcher eine warme Sommernacht erhellt, ohne daß beide geschildert werden. Eine wirkliche Naturbeschreibung ist aber die der Dover-Klippe im König Lear, wo der sich wahnsinnig stellende Edgar seinem blinden Vater Gloster, auf der Ebene gehend, vorbildet, sie erstiegen die Klippe. Schwindelerregend ist die Schilderung des Blicks in die Tiefe von oben hinab."100

Wenn in Shakespeare innere Lebendigkeit der Gefühle und großartige Einfachheit der Sprache die Anschaulichkeit und den individuellen Naturausdruck so wundervoll beleben, so ist in Milton's erhabener Dichtung des verlornen Paradieses, dem Wesen einer solchen Composition nach, das Beschreibende mehr prachtvoll als darstellend. Der ganze Reichthum der Phantasie und der Sprache ist auf die Schilderung der blühenden Natur des Paradieses ausgegossen; aber hier wie in Thomson's lieblichem Lehrgedichte der Jahreszeiten hat die Schilderung der Vegetation nur in allgemeinen, unbestimmteren Umrissen entworfen werden können. Nach dem Urtheile tiefer Kenner der indischen Dichtkunst individualisirt zwar Kalidasa's ähnliches indisches Gedicht, Ritusanhara, das weit über anderthalbtausend Jahre älter ist, die kräftige Tropennatur mit größerer Lebendigkeit; es entbehrt aber der Anmuth, welche in Thomson aus der den höheren Breiten eignen vielfacheren Scheidung der Jahreszeiten, aus den Uebergängen des obstreichen Herbstes

tungen und Gemüthsbewegung der Handelnden Landschaft und Natur, daß wir sie vor uns zu sehen glauben und in ihr zu leben scheinen. So leben wir in der Sommernacht im Walde, sehen wir in den letzten Scenen des Kaufmann von Venedig den Mondschein, welcher eine warme Sommernacht erhellt, ohne daß beide geschildert werden. Eine wirkliche Naturbeschreibung ist aber die der Dover-Klippe im König Lear, wo der sich wahnsinnig stellende Edgar seinem blinden Vater Gloster, auf der Ebene gehend, vorbildet, sie erstiegen die Klippe. Schwindelerregend ist die Schilderung des Blicks in die Tiefe von oben hinab."100

Wenn in Shakespeare innere Lebendigkeit der Gefühle und großartige Einfachheit der Sprache die Anschaulichkeit und den individuellen Naturausdruck so wundervoll beleben, so ist in Milton's erhabener Dichtung des verlornen Paradieses, dem Wesen einer solchen Composition nach, das Beschreibende mehr prachtvoll als darstellend. Der ganze Reichthum der Phantasie und der Sprache ist auf die Schilderung der blühenden Natur des Paradieses ausgegossen; aber hier wie in Thomson's lieblichem Lehrgedichte der Jahreszeiten hat die Schilderung der Vegetation nur in allgemeinen, unbestimmteren Umrissen entworfen werden können. Nach dem Urtheile tiefer Kenner der indischen Dichtkunst individualisirt zwar Kalidasa's ähnliches indisches Gedicht, Ritusanhara, das weit über anderthalbtausend Jahre älter ist, die kräftige Tropennatur mit größerer Lebendigkeit; es entbehrt aber der Anmuth, welche in Thomson aus der den höheren Breiten eignen vielfacheren Scheidung der Jahreszeiten, aus den Uebergängen des obstreichen Herbstes

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[64/0069] tungen und Gemüthsbewegung der Handelnden Landschaft und Natur, daß wir sie vor uns zu sehen glauben und in ihr zu leben scheinen. So leben wir in der Sommernacht im Walde, sehen wir in den letzten Scenen des Kaufmann von Venedig den Mondschein, welcher eine warme Sommernacht erhellt, ohne daß beide geschildert werden. Eine wirkliche Naturbeschreibung ist aber die der Dover-Klippe im König Lear, wo der sich wahnsinnig stellende Edgar seinem blinden Vater Gloster, auf der Ebene gehend, vorbildet, sie erstiegen die Klippe. Schwindelerregend ist die Schilderung des Blicks in die Tiefe von oben hinab." ¹⁰⁰ Wenn in Shakespeare innere Lebendigkeit der Gefühle und großartige Einfachheit der Sprache die Anschaulichkeit und den individuellen Naturausdruck so wundervoll beleben, so ist in Milton's erhabener Dichtung des verlornen Paradieses, dem Wesen einer solchen Composition nach, das Beschreibende mehr prachtvoll als darstellend. Der ganze Reichthum der Phantasie und der Sprache ist auf die Schilderung der blühenden Natur des Paradieses ausgegossen; aber hier wie in Thomson's lieblichem Lehrgedichte der Jahreszeiten hat die Schilderung der Vegetation nur in allgemeinen, unbestimmteren Umrissen entworfen werden können. Nach dem Urtheile tiefer Kenner der indischen Dichtkunst individualisirt zwar Kalidasa's ähnliches indisches Gedicht, Ritusanhara, das weit über anderthalbtausend Jahre älter ist, die kräftige Tropennatur mit größerer Lebendigkeit; es entbehrt aber der Anmuth, welche in Thomson aus der den höheren Breiten eignen vielfacheren Scheidung der Jahreszeiten, aus den Uebergängen des obstreichen Herbstes

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/69>, abgerufen am 29.04.2024.