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Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander v. Humboldt. In: Humboldt, Wilhelm von: Sonette. Berlin, 1853, S. [III]-XVI.

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ist es zugleich unmöglich und unzulässig, Religion und
Poesie mit einander vergleichen zu wollen, und noch
mehr, die letztere als die moralische Bildung mehr be-
fördernd zu betrachten.



"Wenn man von dem Einflusse der Poesie auf die
moralische Bildung reden will, so ist davon auszugehen,
daß, ehe auf eine würdige Weise die Poesie auf den
Menschen einwirken kann, in ihm eine doppelte Grund-
lage vorhanden seyn muß:

"1) eine Grundlage der Gesinnung, die An-
erkennung sittlicher Pflicht, und der Nothwendigkeit sich
dieser zu unterwerfen; dazu religiöses Gefühl, Ueber-
zeugung von einem höchsten Wesen, Glaube und ver-
trauende Liebe, Zuversicht, daß mit dem irdischen Tode
das wahre Daseyn des Menschen erst beginne. Alles
das muß auf einem wahren, sicheren Grunde beruhen;
darin muß gar keine Poesie seyn, weil es die Grund-
festen der menschlichen Gesinnung sind.

"Wo diese Grundlage fehlt, kann keine Poesie wahr-
haft moralisch wirken. Derjenige, in dem sie nicht ist,
kann wohl augenblicklich von Macbeth's Lage ergrif-
fen werden; aber das, was Shakespeare eigentlich hat
wollen fühlen lassen, fühlt allein der, welcher unabhän-
gig von aller Poesie, die Stimme des Gewissens im
Busen trägt, und empfindet, wie furchtbar es sei zu

iſt es zugleich unmöglich und unzuläſſig, Religion und
Poeſie mit einander vergleichen zu wollen, und noch
mehr, die letztere als die moraliſche Bildung mehr be-
fördernd zu betrachten.



„Wenn man von dem Einfluſſe der Poeſie auf die
moraliſche Bildung reden will, ſo iſt davon auszugehen,
daß, ehe auf eine würdige Weiſe die Poeſie auf den
Menſchen einwirken kann, in ihm eine doppelte Grund-
lage vorhanden ſeyn muß:

„1) eine Grundlage der Geſinnung, die An-
erkennung ſittlicher Pflicht, und der Nothwendigkeit ſich
dieſer zu unterwerfen; dazu religiöſes Gefühl, Ueber-
zeugung von einem höchſten Weſen, Glaube und ver-
trauende Liebe, Zuverſicht, daß mit dem irdiſchen Tode
das wahre Daſeyn des Menſchen erſt beginne. Alles
das muß auf einem wahren, ſicheren Grunde beruhen;
darin muß gar keine Poeſie ſeyn, weil es die Grund-
feſten der menſchlichen Geſinnung ſind.

„Wo dieſe Grundlage fehlt, kann keine Poeſie wahr-
haft moraliſch wirken. Derjenige, in dem ſie nicht iſt,
kann wohl augenblicklich von Macbeth's Lage ergrif-
fen werden; aber das, was Shakeſpeare eigentlich hat
wollen fühlen laſſen, fühlt allein der, welcher unabhän-
gig von aller Poeſie, die Stimme des Gewiſſens im
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[XIII/0014] iſt es zugleich unmöglich und unzuläſſig, Religion und Poeſie mit einander vergleichen zu wollen, und noch mehr, die letztere als die moraliſche Bildung mehr be- fördernd zu betrachten. „Wenn man von dem Einfluſſe der Poeſie auf die moraliſche Bildung reden will, ſo iſt davon auszugehen, daß, ehe auf eine würdige Weiſe die Poeſie auf den Menſchen einwirken kann, in ihm eine doppelte Grund- lage vorhanden ſeyn muß: „1) eine Grundlage der Geſinnung, die An- erkennung ſittlicher Pflicht, und der Nothwendigkeit ſich dieſer zu unterwerfen; dazu religiöſes Gefühl, Ueber- zeugung von einem höchſten Weſen, Glaube und ver- trauende Liebe, Zuverſicht, daß mit dem irdiſchen Tode das wahre Daſeyn des Menſchen erſt beginne. Alles das muß auf einem wahren, ſicheren Grunde beruhen; darin muß gar keine Poeſie ſeyn, weil es die Grund- feſten der menſchlichen Geſinnung ſind. „Wo dieſe Grundlage fehlt, kann keine Poeſie wahr- haft moraliſch wirken. Derjenige, in dem ſie nicht iſt, kann wohl augenblicklich von Macbeth's Lage ergrif- fen werden; aber das, was Shakeſpeare eigentlich hat wollen fühlen laſſen, fühlt allein der, welcher unabhän- gig von aller Poeſie, die Stimme des Gewiſſens im Buſen trägt, und empfindet, wie furchtbar es ſei zu

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Vorwort von Alexander v. Humboldt. In: Humboldt, Wilhelm von: Sonette. Berlin, 1853, S. [III]-XVI, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_vorwort_1853/14>, abgerufen am 27.04.2024.