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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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schrecklichen Lage errettet zu werden hoffte, weshalb sie sich
mehrmals im Bette in der gewissen Erwartung aufrichtete, daß
er unverzüglich anlangen werde. Dennoch von steter Todes¬
angst gequält glaubte sie in dem Geschrei anderer Kranken die
klagende Stimme des Verstorbenen zu vernehmen, welcher gleich¬
falls unter grausamer Behandlung zu leiden habe, daher sie
in einen Thränenstrom ausbrach, und erst spät mit der Vor¬
stellung sich beruhigte, er solle in der Charite völlig geheilt
werden. Eine vorhandene Hartleibigkeit machte den Gebrauch
gelinder Abführungen nöthig, und da sie außerdem, die Ner¬
venunruhe abgerechnet, an keinen auffallenden Krankheitserschei¬
nungen litt, so wurde alsbald zur Anwendung der Douche
geschritten. Anfangs glaubte sie wiederum, sie solle in dersel¬
ben getödtet werden; indeß sehr schnell trat die heilsame Wir¬
kung derselben bei ihr ein, so daß sie durch eine kräftige Re¬
action der Nerven aus dem wilden, leidenschaftlichen Taumel
zu einiger Besinnung erweckt und dadurch beruhigt schon in
den nächsten Nächten einen festen Schlaf fand, wenn auch eine
gewisse Bangigkeit noch während der ersten 14 Tage fort¬
dauerte. In ihren Wahnvorstellungen trat freilich Anfangs
keine wesentliche Veränderung ein, sondern sie äußerte diesel¬
ben bei den mit ihr angeknüpften Gespräche noch unverhohlen;
allmählig kam ihr aber doch der Gedanke in den Sinn, daß
es unendlich besser um sie bestellt gewesen sein würde, wenn
sie nicht in den letzten Dienst getreten wäre, und in ihm nicht
ein so schweres Leid erfahren hätte. Wäre sie nur erst aus
ihrer jetzigen Lage befreit, so wolle sie sich bald aus Berlin
entfernen.

Indeß Leidenschaften sind nicht auf einen Schlag zu ver¬
tilgen, und obgleich die M. bald zu so vieler äußeren Besin¬
nung zurückkehrte, daß sie von selbst keine wahnwitzigen Vor¬
stellungen mehr äußerte, selbst ihren bisherigen Zustand als
einen krankhaften anerkannte, und überdies in ihrem ganzen
Betragen Besonnenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und friedfertige
Ruhe zeigte, so lebte doch in der Tiefe des Herzens das Bild
des Verstorbenen fort. Nicht nur sah sie denselben noch im
Traume, sondern sie glaubte selbst noch nach 2 Monaten,
Gott habe ihr Gebet erhört, den Verstorbenen ins Leben zu¬

ſchrecklichen Lage errettet zu werden hoffte, weshalb ſie ſich
mehrmals im Bette in der gewiſſen Erwartung aufrichtete, daß
er unverzuͤglich anlangen werde. Dennoch von ſteter Todes¬
angſt gequaͤlt glaubte ſie in dem Geſchrei anderer Kranken die
klagende Stimme des Verſtorbenen zu vernehmen, welcher gleich¬
falls unter grauſamer Behandlung zu leiden habe, daher ſie
in einen Thraͤnenſtrom ausbrach, und erſt ſpaͤt mit der Vor¬
ſtellung ſich beruhigte, er ſolle in der Charité voͤllig geheilt
werden. Eine vorhandene Hartleibigkeit machte den Gebrauch
gelinder Abfuͤhrungen noͤthig, und da ſie außerdem, die Ner¬
venunruhe abgerechnet, an keinen auffallenden Krankheitserſchei¬
nungen litt, ſo wurde alsbald zur Anwendung der Douche
geſchritten. Anfangs glaubte ſie wiederum, ſie ſolle in derſel¬
ben getoͤdtet werden; indeß ſehr ſchnell trat die heilſame Wir¬
kung derſelben bei ihr ein, ſo daß ſie durch eine kraͤftige Re¬
action der Nerven aus dem wilden, leidenſchaftlichen Taumel
zu einiger Beſinnung erweckt und dadurch beruhigt ſchon in
den naͤchſten Naͤchten einen feſten Schlaf fand, wenn auch eine
gewiſſe Bangigkeit noch waͤhrend der erſten 14 Tage fort¬
dauerte. In ihren Wahnvorſtellungen trat freilich Anfangs
keine weſentliche Veraͤnderung ein, ſondern ſie aͤußerte dieſel¬
ben bei den mit ihr angeknuͤpften Geſpraͤche noch unverhohlen;
allmaͤhlig kam ihr aber doch der Gedanke in den Sinn, daß
es unendlich beſſer um ſie beſtellt geweſen ſein wuͤrde, wenn
ſie nicht in den letzten Dienſt getreten waͤre, und in ihm nicht
ein ſo ſchweres Leid erfahren haͤtte. Waͤre ſie nur erſt aus
ihrer jetzigen Lage befreit, ſo wolle ſie ſich bald aus Berlin
entfernen.

Indeß Leidenſchaften ſind nicht auf einen Schlag zu ver¬
tilgen, und obgleich die M. bald zu ſo vieler aͤußeren Beſin¬
nung zuruͤckkehrte, daß ſie von ſelbſt keine wahnwitzigen Vor¬
ſtellungen mehr aͤußerte, ſelbſt ihren bisherigen Zuſtand als
einen krankhaften anerkannte, und uͤberdies in ihrem ganzen
Betragen Beſonnenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und friedfertige
Ruhe zeigte, ſo lebte doch in der Tiefe des Herzens das Bild
des Verſtorbenen fort. Nicht nur ſah ſie denſelben noch im
Traume, ſondern ſie glaubte ſelbſt noch nach 2 Monaten,
Gott habe ihr Gebet erhoͤrt, den Verſtorbenen ins Leben zu¬

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[100/0108] ſchrecklichen Lage errettet zu werden hoffte, weshalb ſie ſich mehrmals im Bette in der gewiſſen Erwartung aufrichtete, daß er unverzuͤglich anlangen werde. Dennoch von ſteter Todes¬ angſt gequaͤlt glaubte ſie in dem Geſchrei anderer Kranken die klagende Stimme des Verſtorbenen zu vernehmen, welcher gleich¬ falls unter grauſamer Behandlung zu leiden habe, daher ſie in einen Thraͤnenſtrom ausbrach, und erſt ſpaͤt mit der Vor¬ ſtellung ſich beruhigte, er ſolle in der Charité voͤllig geheilt werden. Eine vorhandene Hartleibigkeit machte den Gebrauch gelinder Abfuͤhrungen noͤthig, und da ſie außerdem, die Ner¬ venunruhe abgerechnet, an keinen auffallenden Krankheitserſchei¬ nungen litt, ſo wurde alsbald zur Anwendung der Douche geſchritten. Anfangs glaubte ſie wiederum, ſie ſolle in derſel¬ ben getoͤdtet werden; indeß ſehr ſchnell trat die heilſame Wir¬ kung derſelben bei ihr ein, ſo daß ſie durch eine kraͤftige Re¬ action der Nerven aus dem wilden, leidenſchaftlichen Taumel zu einiger Beſinnung erweckt und dadurch beruhigt ſchon in den naͤchſten Naͤchten einen feſten Schlaf fand, wenn auch eine gewiſſe Bangigkeit noch waͤhrend der erſten 14 Tage fort¬ dauerte. In ihren Wahnvorſtellungen trat freilich Anfangs keine weſentliche Veraͤnderung ein, ſondern ſie aͤußerte dieſel¬ ben bei den mit ihr angeknuͤpften Geſpraͤche noch unverhohlen; allmaͤhlig kam ihr aber doch der Gedanke in den Sinn, daß es unendlich beſſer um ſie beſtellt geweſen ſein wuͤrde, wenn ſie nicht in den letzten Dienſt getreten waͤre, und in ihm nicht ein ſo ſchweres Leid erfahren haͤtte. Waͤre ſie nur erſt aus ihrer jetzigen Lage befreit, ſo wolle ſie ſich bald aus Berlin entfernen. Indeß Leidenſchaften ſind nicht auf einen Schlag zu ver¬ tilgen, und obgleich die M. bald zu ſo vieler aͤußeren Beſin¬ nung zuruͤckkehrte, daß ſie von ſelbſt keine wahnwitzigen Vor¬ ſtellungen mehr aͤußerte, ſelbſt ihren bisherigen Zuſtand als einen krankhaften anerkannte, und uͤberdies in ihrem ganzen Betragen Beſonnenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und friedfertige Ruhe zeigte, ſo lebte doch in der Tiefe des Herzens das Bild des Verſtorbenen fort. Nicht nur ſah ſie denſelben noch im Traume, ſondern ſie glaubte ſelbſt noch nach 2 Monaten, Gott habe ihr Gebet erhoͤrt, den Verſtorbenen ins Leben zu¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/108>, abgerufen am 27.04.2024.