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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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sich damit, daß Paulus in Ketten und Banden geschlagen,
daß selbst Christus gegeißelt worden sei; daher habe auch er
seine Verfolgung nicht als weltliche Strafe für Missethat, son¬
dern als Prüfung Gottes anzusehen, damit er im Geiste ver¬
sucht und seines himmlischen Auftrags würdig befunden werde.
Hierbei verdient bemerkt zu werden, daß er sich von seinem
künftigen Auftreten als Prophet durchaus keine klare Vorstel¬
lung machte, sondern sich für überzeugt hielt, Gott werde zur
rechten Zeit ihn in seinen neuen Beruf einführen, und ihm
die dazu erforderliche Weihe und Erleuchtung verleihen. We¬
nige Tage nachher in die Charite aufgenommen, sprach er An¬
fangs seine Wahnvorstellungen unbefangen aus, indeß da sein
weicher, milder Sinn den getroffenen Heilmaaßregeln durchaus
keinen Widerstand entgegensetzte, so machten letztere einen hin¬
reichenden Eindruck auf ihn, um ihn aus dem Schwindel sei¬
ner schwärmerischen Vorstellungen und Gefühle bald zu einiger
Besinnung zurückzuführen. Es gab Tage, wo er das Irr¬
thümliche seiner bisherigen Denk- und Handlugsweise deut¬
lich einzusehen schien, und wirklich war auch der Wust aber¬
witziger Begriffe über seine Person eigentlich nur von Fana¬
tikern ihm eingeimpft worden, welche seinen ächt frommen
Sinn vielleicht aus selbstsüchtigen Zwecken mißleitet hatten.
Ist aber ein empfängliches Gemüth einmal von Schwärmerei
ergriffen worden, so muß es eben so einen bestimmten Krank¬
heitsproceß durchmachen, wie ein gesunder Körper, welcher
von contagiösem Gifte angesteckt erst dann zur Gesundheit zu¬
rückkehren kann, nachdem er dasselbe durch kritische Bestrebun¬
gen in heilkräftiger Gegenwirkung in sich neutralisirt, und
von sich ausgestoßen hat. Dieser Kampf der innerlich gesun¬
den Lebensverfassung mit einem zerstörenden Krankheitsele¬
mente dringt zu tief in dieselbe ein, als daß die Genesung
von so heftiger Erschütterung ohne mannigfache Schwankungen
zu Stande kommen könnte, welche leicht wieder zum Schlim¬
men umschlagen, und erst durch rastloses Heilbemühen einem
günstigen Ausgange entgegengeführt werden. Nach einer sechs¬
wöchentlichen Behandlung des G. war noch kein Ergebniß erreicht
worden, welches mit einiger Wahrscheinlichkeit den günstigen
oder ungünstigen Ausgang seines Seelenleidens vorhersehen ließ.

ſich damit, daß Paulus in Ketten und Banden geſchlagen,
daß ſelbſt Chriſtus gegeißelt worden ſei; daher habe auch er
ſeine Verfolgung nicht als weltliche Strafe fuͤr Miſſethat, ſon¬
dern als Pruͤfung Gottes anzuſehen, damit er im Geiſte ver¬
ſucht und ſeines himmliſchen Auftrags wuͤrdig befunden werde.
Hierbei verdient bemerkt zu werden, daß er ſich von ſeinem
kuͤnftigen Auftreten als Prophet durchaus keine klare Vorſtel¬
lung machte, ſondern ſich fuͤr uͤberzeugt hielt, Gott werde zur
rechten Zeit ihn in ſeinen neuen Beruf einfuͤhren, und ihm
die dazu erforderliche Weihe und Erleuchtung verleihen. We¬
nige Tage nachher in die Charité aufgenommen, ſprach er An¬
fangs ſeine Wahnvorſtellungen unbefangen aus, indeß da ſein
weicher, milder Sinn den getroffenen Heilmaaßregeln durchaus
keinen Widerſtand entgegenſetzte, ſo machten letztere einen hin¬
reichenden Eindruck auf ihn, um ihn aus dem Schwindel ſei¬
ner ſchwaͤrmeriſchen Vorſtellungen und Gefuͤhle bald zu einiger
Beſinnung zuruͤckzufuͤhren. Es gab Tage, wo er das Irr¬
thuͤmliche ſeiner bisherigen Denk- und Handlugsweiſe deut¬
lich einzuſehen ſchien, und wirklich war auch der Wuſt aber¬
witziger Begriffe uͤber ſeine Perſon eigentlich nur von Fana¬
tikern ihm eingeimpft worden, welche ſeinen aͤcht frommen
Sinn vielleicht aus ſelbſtſuͤchtigen Zwecken mißleitet hatten.
Iſt aber ein empfaͤngliches Gemuͤth einmal von Schwaͤrmerei
ergriffen worden, ſo muß es eben ſo einen beſtimmten Krank¬
heitsproceß durchmachen, wie ein geſunder Koͤrper, welcher
von contagioͤſem Gifte angeſteckt erſt dann zur Geſundheit zu¬
ruͤckkehren kann, nachdem er daſſelbe durch kritiſche Beſtrebun¬
gen in heilkraͤftiger Gegenwirkung in ſich neutraliſirt, und
von ſich ausgeſtoßen hat. Dieſer Kampf der innerlich geſun¬
den Lebensverfaſſung mit einem zerſtoͤrenden Krankheitsele¬
mente dringt zu tief in dieſelbe ein, als daß die Geneſung
von ſo heftiger Erſchuͤtterung ohne mannigfache Schwankungen
zu Stande kommen koͤnnte, welche leicht wieder zum Schlim¬
men umſchlagen, und erſt durch raſtloſes Heilbemuͤhen einem
guͤnſtigen Ausgange entgegengefuͤhrt werden. Nach einer ſechs¬
woͤchentlichen Behandlung des G. war noch kein Ergebniß erreicht
worden, welches mit einiger Wahrſcheinlichkeit den guͤnſtigen
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[196/0204] ſich damit, daß Paulus in Ketten und Banden geſchlagen, daß ſelbſt Chriſtus gegeißelt worden ſei; daher habe auch er ſeine Verfolgung nicht als weltliche Strafe fuͤr Miſſethat, ſon¬ dern als Pruͤfung Gottes anzuſehen, damit er im Geiſte ver¬ ſucht und ſeines himmliſchen Auftrags wuͤrdig befunden werde. Hierbei verdient bemerkt zu werden, daß er ſich von ſeinem kuͤnftigen Auftreten als Prophet durchaus keine klare Vorſtel¬ lung machte, ſondern ſich fuͤr uͤberzeugt hielt, Gott werde zur rechten Zeit ihn in ſeinen neuen Beruf einfuͤhren, und ihm die dazu erforderliche Weihe und Erleuchtung verleihen. We¬ nige Tage nachher in die Charité aufgenommen, ſprach er An¬ fangs ſeine Wahnvorſtellungen unbefangen aus, indeß da ſein weicher, milder Sinn den getroffenen Heilmaaßregeln durchaus keinen Widerſtand entgegenſetzte, ſo machten letztere einen hin¬ reichenden Eindruck auf ihn, um ihn aus dem Schwindel ſei¬ ner ſchwaͤrmeriſchen Vorſtellungen und Gefuͤhle bald zu einiger Beſinnung zuruͤckzufuͤhren. Es gab Tage, wo er das Irr¬ thuͤmliche ſeiner bisherigen Denk- und Handlugsweiſe deut¬ lich einzuſehen ſchien, und wirklich war auch der Wuſt aber¬ witziger Begriffe uͤber ſeine Perſon eigentlich nur von Fana¬ tikern ihm eingeimpft worden, welche ſeinen aͤcht frommen Sinn vielleicht aus ſelbſtſuͤchtigen Zwecken mißleitet hatten. Iſt aber ein empfaͤngliches Gemuͤth einmal von Schwaͤrmerei ergriffen worden, ſo muß es eben ſo einen beſtimmten Krank¬ heitsproceß durchmachen, wie ein geſunder Koͤrper, welcher von contagioͤſem Gifte angeſteckt erſt dann zur Geſundheit zu¬ ruͤckkehren kann, nachdem er daſſelbe durch kritiſche Beſtrebun¬ gen in heilkraͤftiger Gegenwirkung in ſich neutraliſirt, und von ſich ausgeſtoßen hat. Dieſer Kampf der innerlich geſun¬ den Lebensverfaſſung mit einem zerſtoͤrenden Krankheitsele¬ mente dringt zu tief in dieſelbe ein, als daß die Geneſung von ſo heftiger Erſchuͤtterung ohne mannigfache Schwankungen zu Stande kommen koͤnnte, welche leicht wieder zum Schlim¬ men umſchlagen, und erſt durch raſtloſes Heilbemuͤhen einem guͤnſtigen Ausgange entgegengefuͤhrt werden. Nach einer ſechs¬ woͤchentlichen Behandlung des G. war noch kein Ergebniß erreicht worden, welches mit einiger Wahrſcheinlichkeit den guͤnſtigen oder unguͤnſtigen Ausgang ſeines Seelenleidens vorherſehen ließ.

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/204>, abgerufen am 26.04.2024.