dem Herrn Gehorsam leisten solle. In ihrem ganzen Wesen empfand sie ein Rütteln und Schütteln, als ob das bisheri¬ ge kirchliche Wesen ganz aus ihr herausgerissen würde. Durch alles dies wurde ihr Widerstreben gegen die Anabaptisten mit jedem Tage verringert, und sie fing schon an, den neuen Taufritus mit Scheingründen vor sich zu rechtfertigen. Aus der Kirchengeschichte war ihr bekannt, daß in den ersten christ¬ lichen Gemeinden keine Wiedertaufe vollzogen wurde; daher schien ihr der erste Ritus ganz gerechtfertigt, und wenn sie auch noch nicht ganz und unbedingt zu den Anabaptisten sich zu bekehren entschlossen war, so glaubte sie doch von der Wie¬ dertaufe als einem dem Abendmahle nicht unähnlichen Sacra¬ mente Gebrauch machen zu dürfen. Endlich wurde ihr Be¬ denken durch die Erwägung beseitigt, daß die neue Secte als eine von der Obrigkeit geduldete nicht ganz verwerflich sein könne. Zuletzt schloß sie mit ihren Zweifeln ab, indem sie sich sagte, sie wolle sich nicht taufen lassen, um damit erken¬ nen zu geben, das sie zum Lichte erwacht, und dadurch heils¬ begierig geworden sei, sondern um den von ihr geforderten strengen Gehorsam zu beweisen. Als sie endlich einem Gemein¬ demitgliede ihren Entschluß mittheilte, erhielt sie zur Antwort, nun endlich habe der Herr ihr den Teufel ausgetrieben, und ihre Geburtsstunde habe geschlagen. Diese Worte mißfielen ihr sehr, aber sie war schon zu sehr umstrickt, als daß sie noch hätte zurücktreten können.
Dennoch ruhte der Widerspruchsgeist in ihr nicht, denn als von ihr gefordert wurde, sie müsse nun dem Besuche der übrigen Kirchen entsagen, nahm sie sich bestimmt das Gegen¬ theil vor. Auch konnte sie bei Gelegenheit einer Katechisation, welche von mehreren Sectenmitgliedern zur Prüfung ihres Glaubens mit ihr unternommen wurde, nicht der Bemerkung sich erwehren, daß jene der Selbsterkenntniß in einem hohen Grade ermangelten. Besonders sträubte sie in ihrem Innern sich dagegen, daß die Taufe schon in den nächsten Tagen an ihr vollzogen werden solle, da sie gern noch eine zweijährige Zeit zur Vorbereitung gewonnen hätte; indeß sie wagte keinen Widerspruch einzulegen, vielmehr fühlte sie sich so ergriffen, daß sie sich der Aeußerung nicht enthalten konnte, sie betrachte
dem Herrn Gehorſam leiſten ſolle. In ihrem ganzen Weſen empfand ſie ein Ruͤtteln und Schuͤtteln, als ob das bisheri¬ ge kirchliche Weſen ganz aus ihr herausgeriſſen wuͤrde. Durch alles dies wurde ihr Widerſtreben gegen die Anabaptiſten mit jedem Tage verringert, und ſie fing ſchon an, den neuen Taufritus mit Scheingruͤnden vor ſich zu rechtfertigen. Aus der Kirchengeſchichte war ihr bekannt, daß in den erſten chriſt¬ lichen Gemeinden keine Wiedertaufe vollzogen wurde; daher ſchien ihr der erſte Ritus ganz gerechtfertigt, und wenn ſie auch noch nicht ganz und unbedingt zu den Anabaptiſten ſich zu bekehren entſchloſſen war, ſo glaubte ſie doch von der Wie¬ dertaufe als einem dem Abendmahle nicht unaͤhnlichen Sacra¬ mente Gebrauch machen zu duͤrfen. Endlich wurde ihr Be¬ denken durch die Erwaͤgung beſeitigt, daß die neue Secte als eine von der Obrigkeit geduldete nicht ganz verwerflich ſein koͤnne. Zuletzt ſchloß ſie mit ihren Zweifeln ab, indem ſie ſich ſagte, ſie wolle ſich nicht taufen laſſen, um damit erken¬ nen zu geben, das ſie zum Lichte erwacht, und dadurch heils¬ begierig geworden ſei, ſondern um den von ihr geforderten ſtrengen Gehorſam zu beweiſen. Als ſie endlich einem Gemein¬ demitgliede ihren Entſchluß mittheilte, erhielt ſie zur Antwort, nun endlich habe der Herr ihr den Teufel ausgetrieben, und ihre Geburtsſtunde habe geſchlagen. Dieſe Worte mißfielen ihr ſehr, aber ſie war ſchon zu ſehr umſtrickt, als daß ſie noch haͤtte zuruͤcktreten koͤnnen.
Dennoch ruhte der Widerſpruchsgeiſt in ihr nicht, denn als von ihr gefordert wurde, ſie muͤſſe nun dem Beſuche der uͤbrigen Kirchen entſagen, nahm ſie ſich beſtimmt das Gegen¬ theil vor. Auch konnte ſie bei Gelegenheit einer Katechiſation, welche von mehreren Sectenmitgliedern zur Pruͤfung ihres Glaubens mit ihr unternommen wurde, nicht der Bemerkung ſich erwehren, daß jene der Selbſterkenntniß in einem hohen Grade ermangelten. Beſonders ſtraͤubte ſie in ihrem Innern ſich dagegen, daß die Taufe ſchon in den naͤchſten Tagen an ihr vollzogen werden ſolle, da ſie gern noch eine zweijaͤhrige Zeit zur Vorbereitung gewonnen haͤtte; indeß ſie wagte keinen Widerſpruch einzulegen, vielmehr fuͤhlte ſie ſich ſo ergriffen, daß ſie ſich der Aeußerung nicht enthalten konnte, ſie betrachte
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dem Herrn Gehorſam leiſten ſolle. In ihrem ganzen Weſen
empfand ſie ein Ruͤtteln und Schuͤtteln, als ob das bisheri¬
ge kirchliche Weſen ganz aus ihr herausgeriſſen wuͤrde. Durch
alles dies wurde ihr Widerſtreben gegen die Anabaptiſten
mit jedem Tage verringert, und ſie fing ſchon an, den neuen
Taufritus mit Scheingruͤnden vor ſich zu rechtfertigen. Aus
der Kirchengeſchichte war ihr bekannt, daß in den erſten chriſt¬
lichen Gemeinden keine Wiedertaufe vollzogen wurde; daher
ſchien ihr der erſte Ritus ganz gerechtfertigt, und wenn ſie
auch noch nicht ganz und unbedingt zu den Anabaptiſten ſich
zu bekehren entſchloſſen war, ſo glaubte ſie doch von der Wie¬
dertaufe als einem dem Abendmahle nicht unaͤhnlichen Sacra¬
mente Gebrauch machen zu duͤrfen. Endlich wurde ihr Be¬
denken durch die Erwaͤgung beſeitigt, daß die neue Secte als
eine von der Obrigkeit geduldete nicht ganz verwerflich ſein
koͤnne. Zuletzt ſchloß ſie mit ihren Zweifeln ab, indem ſie
ſich ſagte, ſie wolle ſich nicht taufen laſſen, um damit erken¬
nen zu geben, das ſie zum Lichte erwacht, und dadurch heils¬
begierig geworden ſei, ſondern um den von ihr geforderten
ſtrengen Gehorſam zu beweiſen. Als ſie endlich einem Gemein¬
demitgliede ihren Entſchluß mittheilte, erhielt ſie zur Antwort,
nun endlich habe der Herr ihr den Teufel ausgetrieben, und ihre
Geburtsſtunde habe geſchlagen. Dieſe Worte mißfielen ihr ſehr,
aber ſie war ſchon zu ſehr umſtrickt, als daß ſie noch haͤtte
zuruͤcktreten koͤnnen.
Dennoch ruhte der Widerſpruchsgeiſt in ihr nicht, denn
als von ihr gefordert wurde, ſie muͤſſe nun dem Beſuche der
uͤbrigen Kirchen entſagen, nahm ſie ſich beſtimmt das Gegen¬
theil vor. Auch konnte ſie bei Gelegenheit einer Katechiſation,
welche von mehreren Sectenmitgliedern zur Pruͤfung ihres
Glaubens mit ihr unternommen wurde, nicht der Bemerkung
ſich erwehren, daß jene der Selbſterkenntniß in einem hohen
Grade ermangelten. Beſonders ſtraͤubte ſie in ihrem Innern
ſich dagegen, daß die Taufe ſchon in den naͤchſten Tagen an
ihr vollzogen werden ſolle, da ſie gern noch eine zweijaͤhrige
Zeit zur Vorbereitung gewonnen haͤtte; indeß ſie wagte keinen
Widerſpruch einzulegen, vielmehr fuͤhlte ſie ſich ſo ergriffen,
daß ſie ſich der Aeußerung nicht enthalten konnte, ſie betrachte
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/74>, abgerufen am 17.06.2024.
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