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Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbarung antreffen. Bd. 4. Hannover, 1766.

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nicht verstehen? Warum machet man
viel lieber ganz gezwungene Erklärungen,
und dichtet Worten Bedeutungen an, die
man mit nichts erweisen kann, oder schrei-
tet ganz leichtsinniger Weise zu gewissen
gewaltsamen Mitteln der Kunstrichter, wel-
che sehr unsicher sind, und in einen Text
ganz fremde Begriffe hineinbringen, wel-
che nie darinne enthalten gewesen? Wäre
es nicht vernünftiger und billiger zu beken-
nen, daß man von einigen Stellen keine
natürliche und ungezwungene Erklärung
zu geben wisse, und selbige so lange ruhen
ließe, bis jemand auf die Spur einer
leichten und wahrscheinlichen Auslegung
derselben käme? Wie viele Exempel kön-
nen angeführet werden, daß eine Stelle
viele Jahrhunderte auf eine gewaltsame
Weise gezerret worden, von welcher
nachher eine ganz ungezwungene Ausle-
gung gefunden worden. Jch mag mich
mit keiner leichtsinnigen Verwegenheit an
ein Buch wagen, von welchem ich glau-
be, daß es von Gott abstamme. Jch will
lieber meine Unwissenheit bekennen, als
mich in die Gefahr setzen, daß ich einem
Jrrthume das Ansehen einer göttlichen
Wahrheit gebe.



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nicht verſtehen? Warum machet man
viel lieber ganz gezwungene Erklaͤrungen,
und dichtet Worten Bedeutungen an, die
man mit nichts erweiſen kann, oder ſchrei-
tet ganz leichtſinniger Weiſe zu gewiſſen
gewaltſamen Mitteln der Kunſtrichter, wel-
che ſehr unſicher ſind, und in einen Text
ganz fremde Begriffe hineinbringen, wel-
che nie darinne enthalten geweſen? Waͤre
es nicht vernuͤnftiger und billiger zu beken-
nen, daß man von einigen Stellen keine
natuͤrliche und ungezwungene Erklaͤrung
zu geben wiſſe, und ſelbige ſo lange ruhen
ließe, bis jemand auf die Spur einer
leichten und wahrſcheinlichen Auslegung
derſelben kaͤme? Wie viele Exempel koͤn-
nen angefuͤhret werden, daß eine Stelle
viele Jahrhunderte auf eine gewaltſame
Weiſe gezerret worden, von welcher
nachher eine ganz ungezwungene Ausle-
gung gefunden worden. Jch mag mich
mit keiner leichtſinnigen Verwegenheit an
ein Buch wagen, von welchem ich glau-
be, daß es von Gott abſtamme. Jch will
lieber meine Unwiſſenheit bekennen, als
mich in die Gefahr ſetzen, daß ich einem
Jrrthume das Anſehen einer goͤttlichen
Wahrheit gebe.



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[458/0478] nicht verſtehen? Warum machet man viel lieber ganz gezwungene Erklaͤrungen, und dichtet Worten Bedeutungen an, die man mit nichts erweiſen kann, oder ſchrei- tet ganz leichtſinniger Weiſe zu gewiſſen gewaltſamen Mitteln der Kunſtrichter, wel- che ſehr unſicher ſind, und in einen Text ganz fremde Begriffe hineinbringen, wel- che nie darinne enthalten geweſen? Waͤre es nicht vernuͤnftiger und billiger zu beken- nen, daß man von einigen Stellen keine natuͤrliche und ungezwungene Erklaͤrung zu geben wiſſe, und ſelbige ſo lange ruhen ließe, bis jemand auf die Spur einer leichten und wahrſcheinlichen Auslegung derſelben kaͤme? Wie viele Exempel koͤn- nen angefuͤhret werden, daß eine Stelle viele Jahrhunderte auf eine gewaltſame Weiſe gezerret worden, von welcher nachher eine ganz ungezwungene Ausle- gung gefunden worden. Jch mag mich mit keiner leichtſinnigen Verwegenheit an ein Buch wagen, von welchem ich glau- be, daß es von Gott abſtamme. Jch will lieber meine Unwiſſenheit bekennen, als mich in die Gefahr ſetzen, daß ich einem Jrrthume das Anſehen einer goͤttlichen Wahrheit gebe. Regiſter

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Zitationshilfe: Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbarung antreffen. Bd. 4. Hannover, 1766, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen04_1766/478>, abgerufen am 07.05.2024.