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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 6. Berlin, 1952.

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abtreiben kan[n], durch die Darstellung von gestern. Es ist mir
freilich heilsam, wenn sie mich ein wenig schüttelt; aber war ich
denn so sehr wild, zumal da ich allen ohne Ausnahme Freude
machen wollte und weniger trank als sonst? Ich bin ordentlich
meiner müde. Kannst du mich aber ein wenig trösten: so thu' es.5
Künftig werd' ich mit dir mimische Hemmketten meines Wesens
verabreden. -- Emanuel gib allemal alles.

*259. An Ernst Wagner in Meiningen.

Lieber Wagner! Ihr Brief hat mir ich weiß nicht ob mehr10
Freude oder mehr Schmerz gebracht. Der letztere ist, daß ich mir den
Mann, der so viel Leben hat und gibt, immer es verlierend denken
soll; was ich nicht einmal medizinisch kann, oder sonst konnte; daher
Sie auch dato noch leben. Eine poetische Seele wie die Ihrige ist
die beste Wunder-Arzenei eines siechenden Leibes.15

Aber Freude brachte mir Ihr Blatt nicht blos durch die Dar-
stellung Ihrer liebenden Seele, sondern auch durch die Nachrichten
von Andern, die sie belohnen. So sei es! So müssen Sie geliebt
werden! Und Sie werden noch mehr Gesänge geben als Ihren
Schwanengesang!20

Für Ihre empfangenen Bücher danke ich herzlich. Über den Titel
des neuesten schrieb ich an Cotta gestern mit der Bitte, ihn noch
nicht ohne Ihre zweite Ratifikazion abdrucken zu lassen. Nämlich
"Lesebengel" schreckt, zumal auf einem Titelblatte, ab. Warum
nicht ABC-Schütze, oder Buchstabier-Schütze, oder ABC- und25
Lese-Schütze?

Über die "Wahlverwandtschaften" bin ich ganz Ihrer Meinung;
aber das jetzige Publikum ist es gewiß auch; und wozu ihm seine
eigne Meinung vorsagen?

Gegrüßt sei der alte hohe Ritter Truchseß -- dann alles was den30
Namen Heim führt ... O ich sehne mich wol nach drei Festtagen
in Meiningen und nach dem Anblicke der Herzogin, in welcher ich
-- obwol schmerzhaft genug -- meinen Freund Georg zum zweiten
male wieder lieben würde und müßte. Es geh' Ihnen wie der Erde,
d. h. haben Sie Frühling!

J. P. F. Richter35

abtreiben kan[n], durch die Darſtellung von geſtern. Es iſt mir
freilich heilſam, wenn ſie mich ein wenig ſchüttelt; aber war ich
denn ſo ſehr wild, zumal da ich allen ohne Ausnahme Freude
machen wollte und weniger trank als ſonſt? Ich bin ordentlich
meiner müde. Kannſt du mich aber ein wenig tröſten: ſo thu’ es.5
Künftig werd’ ich mit dir mimiſche Hemmketten meines Weſens
verabreden. — Emanuel gib allemal alles.

*259. An Ernſt Wagner in Meiningen.

Lieber Wagner! Ihr Brief hat mir ich weiß nicht ob mehr10
Freude oder mehr Schmerz gebracht. Der letztere iſt, daß ich mir den
Mann, der ſo viel Leben hat und gibt, immer es verlierend denken
ſoll; was ich nicht einmal mediziniſch kann, oder ſonſt konnte; daher
Sie auch dato noch leben. Eine poetiſche Seele wie die Ihrige iſt
die beſte Wunder-Arzenei eines ſiechenden Leibes.15

Aber Freude brachte mir Ihr Blatt nicht blos durch die Dar-
ſtellung Ihrer liebenden Seele, ſondern auch durch die Nachrichten
von Andern, die ſie belohnen. So ſei es! So müſſen Sie geliebt
werden! Und Sie werden noch mehr Geſänge geben als Ihren
Schwanengeſang!20

Für Ihre empfangenen Bücher danke ich herzlich. Über den Titel
des neueſten ſchrieb ich an Cotta geſtern mit der Bitte, ihn noch
nicht ohne Ihre zweite Ratifikazion abdrucken zu laſſen. Nämlich
Leſebengel“ ſchreckt, zumal auf einem Titelblatte, ab. Warum
nicht ABC-Schütze, oder Buchſtabier-Schütze, oder ABC- und25
Leſe-Schütze?

Über die „Wahlverwandtſchaften“ bin ich ganz Ihrer Meinung;
aber das jetzige Publikum iſt es gewiß auch; und wozu ihm ſeine
eigne Meinung vorſagen?

Gegrüßt ſei der alte hohe Ritter Truchſeß — dann alles was den30
Namen Heim führt ... O ich ſehne mich wol nach drei Feſttagen
in Meiningen und nach dem Anblicke der Herzogin, in welcher ich
— obwol ſchmerzhaft genug — meinen Freund Georg zum zweiten
male wieder lieben würde und müßte. Es geh’ Ihnen wie der Erde,
d. h. haben Sie Frühling!

J. P. F. Richter35
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[100/0113] abtreiben kan[n], durch die Darſtellung von geſtern. Es iſt mir freilich heilſam, wenn ſie mich ein wenig ſchüttelt; aber war ich denn ſo ſehr wild, zumal da ich allen ohne Ausnahme Freude machen wollte und weniger trank als ſonſt? Ich bin ordentlich meiner müde. Kannſt du mich aber ein wenig tröſten: ſo thu’ es. 5 Künftig werd’ ich mit dir mimiſche Hemmketten meines Weſens verabreden. — Emanuel gib allemal alles. *259. An Ernſt Wagner in Meiningen. Bayreuth d. 22 Apr. 1810 Lieber Wagner! Ihr Brief hat mir ich weiß nicht ob mehr 10 Freude oder mehr Schmerz gebracht. Der letztere iſt, daß ich mir den Mann, der ſo viel Leben hat und gibt, immer es verlierend denken ſoll; was ich nicht einmal mediziniſch kann, oder ſonſt konnte; daher Sie auch dato noch leben. Eine poetiſche Seele wie die Ihrige iſt die beſte Wunder-Arzenei eines ſiechenden Leibes. 15 Aber Freude brachte mir Ihr Blatt nicht blos durch die Dar- ſtellung Ihrer liebenden Seele, ſondern auch durch die Nachrichten von Andern, die ſie belohnen. So ſei es! So müſſen Sie geliebt werden! Und Sie werden noch mehr Geſänge geben als Ihren Schwanengeſang! 20 Für Ihre empfangenen Bücher danke ich herzlich. Über den Titel des neueſten ſchrieb ich an Cotta geſtern mit der Bitte, ihn noch nicht ohne Ihre zweite Ratifikazion abdrucken zu laſſen. Nämlich „Leſebengel“ ſchreckt, zumal auf einem Titelblatte, ab. Warum nicht ABC-Schütze, oder Buchſtabier-Schütze, oder ABC- und 25 Leſe-Schütze? Über die „Wahlverwandtſchaften“ bin ich ganz Ihrer Meinung; aber das jetzige Publikum iſt es gewiß auch; und wozu ihm ſeine eigne Meinung vorſagen? Gegrüßt ſei der alte hohe Ritter Truchſeß — dann alles was den 30 Namen Heim führt ... O ich ſehne mich wol nach drei Feſttagen in Meiningen und nach dem Anblicke der Herzogin, in welcher ich — obwol ſchmerzhaft genug — meinen Freund Georg zum zweiten male wieder lieben würde und müßte. Es geh’ Ihnen wie der Erde, d. h. haben Sie Frühling! J. P. F. Richter 35

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:17:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:17:09Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 6. Berlin, 1952, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe06_1962/113>, abgerufen am 29.04.2024.