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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Der Staat -- 1. Familienprinzip. Agnation. §. 14.
die Blutsverwandten, die Cognaten, in den Hintergrund ge-
drängt. Der entfernteste Agnat und die Gentilen schließen den
emancipirten Sohn beim Tode seines Vaters oder den Enkel
bei dem seines mütterlichen Großvaters von der Erbschaft aus;
beiden dem Verstorbenen so nahe stehenden Personen, vielleicht
seinen einzigen Descendenten, erkennt das Recht, das in ihnen
nur Fremde erblickt, kein Erbrecht zu, selbst nicht an letzter
Stelle. Woher diese scheinbare Härte? Sie war eine Conse-
quenz der formalistischen Behandlung des Verwandtschaftsver-
hältnisses, die durch die politische Function desselben in der
Gentilverfassung nothwendig gemacht wurde. Indem die Fa-
milie eine politische Corporation wird, nimmt sie nothwendi-
gerweise Bestandtheile in sich auf, legt sich Beschränkungen auf,
die ihrem ursprünglichen Wesen, der Einheit des Bluts und der
Liebe, fremd sind. Es bereitet sich damit eine Spaltung, die
Möglichkeit eines Auseinanderfallens der natürlichen und juri-
stischen Familie vor; diese durch das Gesetz mit den wesentlich-
sten rechtlichen Vortheilen des Familienverhältnisses ausgestat-
tet, jene derselben beraubt und nur auf das freie Walten der
individuellen Liebe angewiesen. Aus der Opposition, in der
sich die natürliche Familienliebe in einem solchen Fall zu der
juristischen Behandlungsweise fühlte, ging das Bestreben her-
vor, der natürlichen Familie durch Rechtsgeschäfte zu ersetzen,
was das Gesetz ihr versagt hatte, namentlich also durch Testa-
mente das Erbrecht. Bei den vor-römischen Völkern trat die Fa-
milie der testamentarischen Freiheit entgegen, bei den Römern
treibt sie durch ihre theilweise verschobene Stellung dieselbe her-
vor, wenigstens läßt sich diese Stellung als zureichender Grund
bezeichnen, der das Bedürfniß der Testamente in Rom motivirt,
während man abgesehn davon auf eine solche Motivirung ver-
zichten, annehmen müßte, daß die Testamente nicht einem sitt-
lichen Motive, sondern der Willkühr, dem Widerspruch gegen
die bei allen Völkern bemerkbare Verbindung des Erbrechts mit
der Familie ihren Ursprung verdankten. Im Zweifel darf man

2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Agnation. §. 14.
die Blutsverwandten, die Cognaten, in den Hintergrund ge-
drängt. Der entfernteſte Agnat und die Gentilen ſchließen den
emancipirten Sohn beim Tode ſeines Vaters oder den Enkel
bei dem ſeines mütterlichen Großvaters von der Erbſchaft aus;
beiden dem Verſtorbenen ſo nahe ſtehenden Perſonen, vielleicht
ſeinen einzigen Deſcendenten, erkennt das Recht, das in ihnen
nur Fremde erblickt, kein Erbrecht zu, ſelbſt nicht an letzter
Stelle. Woher dieſe ſcheinbare Härte? Sie war eine Conſe-
quenz der formaliſtiſchen Behandlung des Verwandtſchaftsver-
hältniſſes, die durch die politiſche Function deſſelben in der
Gentilverfaſſung nothwendig gemacht wurde. Indem die Fa-
milie eine politiſche Corporation wird, nimmt ſie nothwendi-
gerweiſe Beſtandtheile in ſich auf, legt ſich Beſchränkungen auf,
die ihrem urſprünglichen Weſen, der Einheit des Bluts und der
Liebe, fremd ſind. Es bereitet ſich damit eine Spaltung, die
Möglichkeit eines Auseinanderfallens der natürlichen und juri-
ſtiſchen Familie vor; dieſe durch das Geſetz mit den weſentlich-
ſten rechtlichen Vortheilen des Familienverhältniſſes ausgeſtat-
tet, jene derſelben beraubt und nur auf das freie Walten der
individuellen Liebe angewieſen. Aus der Oppoſition, in der
ſich die natürliche Familienliebe in einem ſolchen Fall zu der
juriſtiſchen Behandlungsweiſe fühlte, ging das Beſtreben her-
vor, der natürlichen Familie durch Rechtsgeſchäfte zu erſetzen,
was das Geſetz ihr verſagt hatte, namentlich alſo durch Teſta-
mente das Erbrecht. Bei den vor-römiſchen Völkern trat die Fa-
milie der teſtamentariſchen Freiheit entgegen, bei den Römern
treibt ſie durch ihre theilweiſe verſchobene Stellung dieſelbe her-
vor, wenigſtens läßt ſich dieſe Stellung als zureichender Grund
bezeichnen, der das Bedürfniß der Teſtamente in Rom motivirt,
während man abgeſehn davon auf eine ſolche Motivirung ver-
zichten, annehmen müßte, daß die Teſtamente nicht einem ſitt-
lichen Motive, ſondern der Willkühr, dem Widerſpruch gegen
die bei allen Völkern bemerkbare Verbindung des Erbrechts mit
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[191/0209] 2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Agnation. §. 14. die Blutsverwandten, die Cognaten, in den Hintergrund ge- drängt. Der entfernteſte Agnat und die Gentilen ſchließen den emancipirten Sohn beim Tode ſeines Vaters oder den Enkel bei dem ſeines mütterlichen Großvaters von der Erbſchaft aus; beiden dem Verſtorbenen ſo nahe ſtehenden Perſonen, vielleicht ſeinen einzigen Deſcendenten, erkennt das Recht, das in ihnen nur Fremde erblickt, kein Erbrecht zu, ſelbſt nicht an letzter Stelle. Woher dieſe ſcheinbare Härte? Sie war eine Conſe- quenz der formaliſtiſchen Behandlung des Verwandtſchaftsver- hältniſſes, die durch die politiſche Function deſſelben in der Gentilverfaſſung nothwendig gemacht wurde. Indem die Fa- milie eine politiſche Corporation wird, nimmt ſie nothwendi- gerweiſe Beſtandtheile in ſich auf, legt ſich Beſchränkungen auf, die ihrem urſprünglichen Weſen, der Einheit des Bluts und der Liebe, fremd ſind. Es bereitet ſich damit eine Spaltung, die Möglichkeit eines Auseinanderfallens der natürlichen und juri- ſtiſchen Familie vor; dieſe durch das Geſetz mit den weſentlich- ſten rechtlichen Vortheilen des Familienverhältniſſes ausgeſtat- tet, jene derſelben beraubt und nur auf das freie Walten der individuellen Liebe angewieſen. Aus der Oppoſition, in der ſich die natürliche Familienliebe in einem ſolchen Fall zu der juriſtiſchen Behandlungsweiſe fühlte, ging das Beſtreben her- vor, der natürlichen Familie durch Rechtsgeſchäfte zu erſetzen, was das Geſetz ihr verſagt hatte, namentlich alſo durch Teſta- mente das Erbrecht. Bei den vor-römiſchen Völkern trat die Fa- milie der teſtamentariſchen Freiheit entgegen, bei den Römern treibt ſie durch ihre theilweiſe verſchobene Stellung dieſelbe her- vor, wenigſtens läßt ſich dieſe Stellung als zureichender Grund bezeichnen, der das Bedürfniß der Teſtamente in Rom motivirt, während man abgeſehn davon auf eine ſolche Motivirung ver- zichten, annehmen müßte, daß die Teſtamente nicht einem ſitt- lichen Motive, ſondern der Willkühr, dem Widerſpruch gegen die bei allen Völkern bemerkbare Verbindung des Erbrechts mit der Familie ihren Urſprung verdankten. Im Zweifel darf man

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/209>, abgerufen am 30.04.2024.