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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Einleitung -- die Methode.
durch Beweglichkeit und Bildsamkeit aus, und derselbe Entwick-
lungsprozeß, der bei letzteren sich leicht und mühelos vollzieht
und in einem Jahrhundert beendet ist, dehnt sich dort in müh-
samer Arbeit über mehre Jahrhunderte aus.

So stehen z. B. das öffentliche und das Privatrecht, der
Kriminalprozeß und Civilprozeß und im Privatrecht die einzel-
nen Theile desselben nicht auf gleicher Stufe. Das Familienrecht
und auch, insoweit es mit diesem zusammenhängt, das Erbrecht
sind langsamer und weniger bildsam, als das Vermögensrecht,
und letzteres zeigt wiederum bei unbeweglichen Sachen eine grö-
ßere Hartnäckigkeit, als bei beweglichen, und hinsichtlich der
letzteren tritt bei den dem Handelsverkehr bestimmten Verhält-
nissen die höchste Steigerung der Bildungsfähigkeit hervor.

Wenn also ein und derselbe Entwicklungsprozeß auch gleich-
zeitig bei allen Instituten begönne, so würde doch der fernere Fort-
gang desselben durch diese verschiedene Empfänglichkeit derselben
bestimmt sein, und je nach dieser Verschiedenheit wäre er bei
dem einen vielleicht beendet, während er bei dem andern erst zur
vollen Thätigkeit gelangte. Aus dem langen Zeitraum von den
XII Tafeln bis zu Justinian läßt sich daher kein Jahr, ja nicht
einmal ein Abschnitt von 50 oder 100 Jahren als Normalpunkt
für alle Institute herausheben; für einige derselben zutreffend
würde er für andere zu früh, für andre zu spät sein.

Aber was folgt hieraus? Nicht der Mangel der Gleichzei-
tigkeit, sondern nur das Bedürfniß einer weiteren Fassung der-
selben. Wie die von uns gesuchte Identität der Bewegung in
den einzelnen Instituten hinsichtlich ihrer Erscheinungs form
eine große Elasticität besitzt, so auch hinsichtlich ihrer Erschei-
nungs zeit, und es kömmt, um beide zu finden, nur auf den
richtigen Maßstab an. Die folgende Ausführung wird diese
freiere Behandlung der Zeit für die Geschichte des Rechts in
einem noch weiteren Umfange begründen; begnügen wir uns
hier zunächst mit dem Resultat, daß bei richtiger Wahl der Ge-
sichtspunkte die von unsern Rechtshistorikern bezeichnete Confor-

Einleitung — die Methode.
durch Beweglichkeit und Bildſamkeit aus, und derſelbe Entwick-
lungsprozeß, der bei letzteren ſich leicht und mühelos vollzieht
und in einem Jahrhundert beendet iſt, dehnt ſich dort in müh-
ſamer Arbeit über mehre Jahrhunderte aus.

So ſtehen z. B. das öffentliche und das Privatrecht, der
Kriminalprozeß und Civilprozeß und im Privatrecht die einzel-
nen Theile deſſelben nicht auf gleicher Stufe. Das Familienrecht
und auch, inſoweit es mit dieſem zuſammenhängt, das Erbrecht
ſind langſamer und weniger bildſam, als das Vermögensrecht,
und letzteres zeigt wiederum bei unbeweglichen Sachen eine grö-
ßere Hartnäckigkeit, als bei beweglichen, und hinſichtlich der
letzteren tritt bei den dem Handelsverkehr beſtimmten Verhält-
niſſen die höchſte Steigerung der Bildungsfähigkeit hervor.

Wenn alſo ein und derſelbe Entwicklungsprozeß auch gleich-
zeitig bei allen Inſtituten begönne, ſo würde doch der fernere Fort-
gang deſſelben durch dieſe verſchiedene Empfänglichkeit derſelben
beſtimmt ſein, und je nach dieſer Verſchiedenheit wäre er bei
dem einen vielleicht beendet, während er bei dem andern erſt zur
vollen Thätigkeit gelangte. Aus dem langen Zeitraum von den
XII Tafeln bis zu Juſtinian läßt ſich daher kein Jahr, ja nicht
einmal ein Abſchnitt von 50 oder 100 Jahren als Normalpunkt
für alle Inſtitute herausheben; für einige derſelben zutreffend
würde er für andere zu früh, für andre zu ſpät ſein.

Aber was folgt hieraus? Nicht der Mangel der Gleichzei-
tigkeit, ſondern nur das Bedürfniß einer weiteren Faſſung der-
ſelben. Wie die von uns geſuchte Identität der Bewegung in
den einzelnen Inſtituten hinſichtlich ihrer Erſcheinungs form
eine große Elaſticität beſitzt, ſo auch hinſichtlich ihrer Erſchei-
nungs zeit, und es kömmt, um beide zu finden, nur auf den
richtigen Maßſtab an. Die folgende Ausführung wird dieſe
freiere Behandlung der Zeit für die Geſchichte des Rechts in
einem noch weiteren Umfange begründen; begnügen wir uns
hier zunächſt mit dem Reſultat, daß bei richtiger Wahl der Ge-
ſichtspunkte die von unſern Rechtshiſtorikern bezeichnete Confor-

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[60/0078] Einleitung — die Methode. durch Beweglichkeit und Bildſamkeit aus, und derſelbe Entwick- lungsprozeß, der bei letzteren ſich leicht und mühelos vollzieht und in einem Jahrhundert beendet iſt, dehnt ſich dort in müh- ſamer Arbeit über mehre Jahrhunderte aus. So ſtehen z. B. das öffentliche und das Privatrecht, der Kriminalprozeß und Civilprozeß und im Privatrecht die einzel- nen Theile deſſelben nicht auf gleicher Stufe. Das Familienrecht und auch, inſoweit es mit dieſem zuſammenhängt, das Erbrecht ſind langſamer und weniger bildſam, als das Vermögensrecht, und letzteres zeigt wiederum bei unbeweglichen Sachen eine grö- ßere Hartnäckigkeit, als bei beweglichen, und hinſichtlich der letzteren tritt bei den dem Handelsverkehr beſtimmten Verhält- niſſen die höchſte Steigerung der Bildungsfähigkeit hervor. Wenn alſo ein und derſelbe Entwicklungsprozeß auch gleich- zeitig bei allen Inſtituten begönne, ſo würde doch der fernere Fort- gang deſſelben durch dieſe verſchiedene Empfänglichkeit derſelben beſtimmt ſein, und je nach dieſer Verſchiedenheit wäre er bei dem einen vielleicht beendet, während er bei dem andern erſt zur vollen Thätigkeit gelangte. Aus dem langen Zeitraum von den XII Tafeln bis zu Juſtinian läßt ſich daher kein Jahr, ja nicht einmal ein Abſchnitt von 50 oder 100 Jahren als Normalpunkt für alle Inſtitute herausheben; für einige derſelben zutreffend würde er für andere zu früh, für andre zu ſpät ſein. Aber was folgt hieraus? Nicht der Mangel der Gleichzei- tigkeit, ſondern nur das Bedürfniß einer weiteren Faſſung der- ſelben. Wie die von uns geſuchte Identität der Bewegung in den einzelnen Inſtituten hinſichtlich ihrer Erſcheinungs form eine große Elaſticität beſitzt, ſo auch hinſichtlich ihrer Erſchei- nungs zeit, und es kömmt, um beide zu finden, nur auf den richtigen Maßſtab an. Die folgende Ausführung wird dieſe freiere Behandlung der Zeit für die Geſchichte des Rechts in einem noch weiteren Umfange begründen; begnügen wir uns hier zunächſt mit dem Reſultat, daß bei richtiger Wahl der Ge- ſichtspunkte die von unſern Rechtshiſtorikern bezeichnete Confor-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/78>, abgerufen am 29.04.2024.