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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
in Rang, Stand, Vermögen u. s. w. hat man als Wider-
sprüche gegen die wahre Freiheit und Gerechtigkeit angesehen
und verlangt, daß sie dem Prinzip der abstracten Gleichheit
aller Menschen weichen sollten. Den ersten historisch bekannten
Versuch zur praktischen Realisirung einer solchen Auffassung
enthielt die lykurgische Gesetzgebung. Lykurg wollte die effek-
tive
Gleichheit von Spartas Bürgern, d. h. eine Gleichheit
derselben nicht bloß in ihren Rechten, sondern eine persönliche
und sociale, also in ihrer Erziehung, Bildung, Lebensweise,
ihrem Vermögen u. s. w. Eine solche gesetzlich erzwungene
Gleichheit ließ sich nur errichten auf dem Grabe der Freiheit,
sie war die äußerste Tyrannei unter republikanischem Deckman-
tel, die bitterste Satire auf die wahre Freiheit, denn sie hob das
ureigenste Recht des Subjekts auf freie Entfaltung seiner Indi-
vidualität völlig auf.

Es war dasselbe Mißverständniß der Gleichheit, das in der
neuern Geschichte sich in dem Bauernkriege in so schrecklicher
Gestalt wiederholte, und später mit der französischen Revolu-
tion sein blutiges Spiel von neuem begann.

Worin liegt das Mißverständniß? Dürfen wir das Prinzip
der Gleichheit überhaupt anerkennen, oder ist es nicht von vorn-
herein aufzugeben, da ja die Geschichte demselben faktisch die
Anerkennung versagt? Die Antwort darauf kann uns das rö-
mische Volk ertheilen. Die Gleichheit, die die Römer wollten,
hat mit der des Lykurg und unserer heutigen Gleichheitsapostel
nichts gemein; letztere würden sich im alten Rom ebenso ent-
täuscht und unbehaglich gefühlt haben, wie es ihnen im freien
England und Amerika zu ergehen pflegt.

Die römische Gleichheit geht Hand in Hand mit der wah-
ren Freiheit und darum auch mit dem auf Ungleichheiten gerich-
teten Bildungstriebe der Geschichte, ja sie läßt sich als Ausfluß
der Freiheit selbst betrachten. Frei soll sich in Rom entwickeln
alles, was Lebenskraft in sich trägt, und daß nicht Eine Kraft
hier auf Kosten der andern künstlich d. h. durch Gesetz bevor-

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
in Rang, Stand, Vermögen u. ſ. w. hat man als Wider-
ſprüche gegen die wahre Freiheit und Gerechtigkeit angeſehen
und verlangt, daß ſie dem Prinzip der abſtracten Gleichheit
aller Menſchen weichen ſollten. Den erſten hiſtoriſch bekannten
Verſuch zur praktiſchen Realiſirung einer ſolchen Auffaſſung
enthielt die lykurgiſche Geſetzgebung. Lykurg wollte die effek-
tive
Gleichheit von Spartas Bürgern, d. h. eine Gleichheit
derſelben nicht bloß in ihren Rechten, ſondern eine perſönliche
und ſociale, alſo in ihrer Erziehung, Bildung, Lebensweiſe,
ihrem Vermögen u. ſ. w. Eine ſolche geſetzlich erzwungene
Gleichheit ließ ſich nur errichten auf dem Grabe der Freiheit,
ſie war die äußerſte Tyrannei unter republikaniſchem Deckman-
tel, die bitterſte Satire auf die wahre Freiheit, denn ſie hob das
ureigenſte Recht des Subjekts auf freie Entfaltung ſeiner Indi-
vidualität völlig auf.

Es war daſſelbe Mißverſtändniß der Gleichheit, das in der
neuern Geſchichte ſich in dem Bauernkriege in ſo ſchrecklicher
Geſtalt wiederholte, und ſpäter mit der franzöſiſchen Revolu-
tion ſein blutiges Spiel von neuem begann.

Worin liegt das Mißverſtändniß? Dürfen wir das Prinzip
der Gleichheit überhaupt anerkennen, oder iſt es nicht von vorn-
herein aufzugeben, da ja die Geſchichte demſelben faktiſch die
Anerkennung verſagt? Die Antwort darauf kann uns das rö-
miſche Volk ertheilen. Die Gleichheit, die die Römer wollten,
hat mit der des Lykurg und unſerer heutigen Gleichheitsapoſtel
nichts gemein; letztere würden ſich im alten Rom ebenſo ent-
täuſcht und unbehaglich gefühlt haben, wie es ihnen im freien
England und Amerika zu ergehen pflegt.

Die römiſche Gleichheit geht Hand in Hand mit der wah-
ren Freiheit und darum auch mit dem auf Ungleichheiten gerich-
teten Bildungstriebe der Geſchichte, ja ſie läßt ſich als Ausfluß
der Freiheit ſelbſt betrachten. Frei ſoll ſich in Rom entwickeln
alles, was Lebenskraft in ſich trägt, und daß nicht Eine Kraft
hier auf Koſten der andern künſtlich d. h. durch Geſetz bevor-

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[88/0102] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. in Rang, Stand, Vermögen u. ſ. w. hat man als Wider- ſprüche gegen die wahre Freiheit und Gerechtigkeit angeſehen und verlangt, daß ſie dem Prinzip der abſtracten Gleichheit aller Menſchen weichen ſollten. Den erſten hiſtoriſch bekannten Verſuch zur praktiſchen Realiſirung einer ſolchen Auffaſſung enthielt die lykurgiſche Geſetzgebung. Lykurg wollte die effek- tive Gleichheit von Spartas Bürgern, d. h. eine Gleichheit derſelben nicht bloß in ihren Rechten, ſondern eine perſönliche und ſociale, alſo in ihrer Erziehung, Bildung, Lebensweiſe, ihrem Vermögen u. ſ. w. Eine ſolche geſetzlich erzwungene Gleichheit ließ ſich nur errichten auf dem Grabe der Freiheit, ſie war die äußerſte Tyrannei unter republikaniſchem Deckman- tel, die bitterſte Satire auf die wahre Freiheit, denn ſie hob das ureigenſte Recht des Subjekts auf freie Entfaltung ſeiner Indi- vidualität völlig auf. Es war daſſelbe Mißverſtändniß der Gleichheit, das in der neuern Geſchichte ſich in dem Bauernkriege in ſo ſchrecklicher Geſtalt wiederholte, und ſpäter mit der franzöſiſchen Revolu- tion ſein blutiges Spiel von neuem begann. Worin liegt das Mißverſtändniß? Dürfen wir das Prinzip der Gleichheit überhaupt anerkennen, oder iſt es nicht von vorn- herein aufzugeben, da ja die Geſchichte demſelben faktiſch die Anerkennung verſagt? Die Antwort darauf kann uns das rö- miſche Volk ertheilen. Die Gleichheit, die die Römer wollten, hat mit der des Lykurg und unſerer heutigen Gleichheitsapoſtel nichts gemein; letztere würden ſich im alten Rom ebenſo ent- täuſcht und unbehaglich gefühlt haben, wie es ihnen im freien England und Amerika zu ergehen pflegt. Die römiſche Gleichheit geht Hand in Hand mit der wah- ren Freiheit und darum auch mit dem auf Ungleichheiten gerich- teten Bildungstriebe der Geſchichte, ja ſie läßt ſich als Ausfluß der Freiheit ſelbſt betrachten. Frei ſoll ſich in Rom entwickeln alles, was Lebenskraft in ſich trägt, und daß nicht Eine Kraft hier auf Koſten der andern künſtlich d. h. durch Geſetz bevor-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/102>, abgerufen am 30.04.2024.