Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

A. Stellung des Indiv. Die Wohlfahrtsfrage. §. 34.
kümmert habe. Gelingt es uns das Gegentheil nachzuweisen,
so wird damit jeder Zweifel über das wahre Verhältniß des
Staats zum System der Freiheit beseitigt sein.

Daß das Verhältniß des Bürgers zum Staat in Rom ein
viel innigeres war, als heutzutage, ist bekannt. Das römische
Rechtsgefühl wußte allerdings das Recht des Einzelnen von dem
des Staats sehr wohl zu trennen, und wenn wirklich die natur-
rechtliche Doktrin, wie neuerdings behauptet ist, den Gedanken
einer solchen Scheidung erst dem römischen Recht hätte entneh-
men müssen, so brauchten wir diese Entlehnung nicht zu be-
dauern, sondern uns nur zu schämen, die einfache Wahrheit,
daß die Persönlichkeit ihr Recht mit auf die Welt bringt, ein
Recht von Gottes Gnaden, das jeder Staat respektiren soll,
nicht von selbst gefunden zu haben. Mit dieser Abgränzung der
Rechtssphären des Staats und des Einzelnen vertrug sich aber
in Rom das innigste Verhältniß beider sehr wohl, so wie die
rechtliche Verschiedenheit zweier Personen der völligen Einigung
derselben in der Liebe nicht im Wege steht. Die Liebe verlangt
nicht, daß die rechtliche Scheidelinie hinwegfalle, denn für sie
existirt diese Schranke nicht, sie überspringt sie. So postulirte
das römische Rechtsgefühl jene Demarkationslinie zwischen
dem Recht des Subjekts und dem des Staats, aber nicht, da-
mit sich eine egoistische, engherzige Gesinnung in Sicherheit
hinter dieselbe zurückziehe, sondern damit die freie Hingabe
und Aufopferung ihren Werth und ihre Ehre habe. Wie kalt,
wie fremd, wie liebeleer ist im allgemeinen das heutige Ver-
hältniß des Bürgers zum Staat; wie warm, wie innig, wie
von wirklicher Liebe beseelt in Rom! Der heutigen Vorstellung
erscheint der Staat als abstracte dem Einzelnen gegenüber
stehende Persönlichkeit, der römischen als die höhere, den Ein-
zelnen umfassende und durch ihn mitgebildete Einheit. 362)

362) Daher auch die Auffassung vom Vermögen des Staats eine so völ-
lig verschiedene. Uns erscheint dasselbe als Eigenthum des Subjektes Staat,
also als fremdes, dem Römer als sein eignes, ihm mit seinen Genossen ge-
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 16

A. Stellung des Indiv. Die Wohlfahrtsfrage. §. 34.
kümmert habe. Gelingt es uns das Gegentheil nachzuweiſen,
ſo wird damit jeder Zweifel über das wahre Verhältniß des
Staats zum Syſtem der Freiheit beſeitigt ſein.

Daß das Verhältniß des Bürgers zum Staat in Rom ein
viel innigeres war, als heutzutage, iſt bekannt. Das römiſche
Rechtsgefühl wußte allerdings das Recht des Einzelnen von dem
des Staats ſehr wohl zu trennen, und wenn wirklich die natur-
rechtliche Doktrin, wie neuerdings behauptet iſt, den Gedanken
einer ſolchen Scheidung erſt dem römiſchen Recht hätte entneh-
men müſſen, ſo brauchten wir dieſe Entlehnung nicht zu be-
dauern, ſondern uns nur zu ſchämen, die einfache Wahrheit,
daß die Perſönlichkeit ihr Recht mit auf die Welt bringt, ein
Recht von Gottes Gnaden, das jeder Staat reſpektiren ſoll,
nicht von ſelbſt gefunden zu haben. Mit dieſer Abgränzung der
Rechtsſphären des Staats und des Einzelnen vertrug ſich aber
in Rom das innigſte Verhältniß beider ſehr wohl, ſo wie die
rechtliche Verſchiedenheit zweier Perſonen der völligen Einigung
derſelben in der Liebe nicht im Wege ſteht. Die Liebe verlangt
nicht, daß die rechtliche Scheidelinie hinwegfalle, denn für ſie
exiſtirt dieſe Schranke nicht, ſie überſpringt ſie. So poſtulirte
das römiſche Rechtsgefühl jene Demarkationslinie zwiſchen
dem Recht des Subjekts und dem des Staats, aber nicht, da-
mit ſich eine egoiſtiſche, engherzige Geſinnung in Sicherheit
hinter dieſelbe zurückziehe, ſondern damit die freie Hingabe
und Aufopferung ihren Werth und ihre Ehre habe. Wie kalt,
wie fremd, wie liebeleer iſt im allgemeinen das heutige Ver-
hältniß des Bürgers zum Staat; wie warm, wie innig, wie
von wirklicher Liebe beſeelt in Rom! Der heutigen Vorſtellung
erſcheint der Staat als abſtracte dem Einzelnen gegenüber
ſtehende Perſönlichkeit, der römiſchen als die höhere, den Ein-
zelnen umfaſſende und durch ihn mitgebildete Einheit. 362)

362) Daher auch die Auffaſſung vom Vermögen des Staats eine ſo völ-
lig verſchiedene. Uns erſcheint daſſelbe als Eigenthum des Subjektes Staat,
alſo als fremdes, dem Römer als ſein eignes, ihm mit ſeinen Genoſſen ge-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0255" n="241"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">A.</hi> Stellung des Indiv. Die Wohlfahrtsfrage. §. 34.</fw><lb/>
kümmert habe. Gelingt es uns das Gegentheil nachzuwei&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;o wird damit jeder Zweifel über das wahre Verhältniß des<lb/>
Staats zum Sy&#x017F;tem der Freiheit be&#x017F;eitigt &#x017F;ein.</p><lb/>
                    <p>Daß das Verhältniß des Bürgers zum Staat in Rom ein<lb/>
viel innigeres war, als heutzutage, i&#x017F;t bekannt. Das römi&#x017F;che<lb/>
Rechtsgefühl wußte allerdings das Recht des Einzelnen von dem<lb/>
des Staats &#x017F;ehr wohl zu trennen, und wenn wirklich die natur-<lb/>
rechtliche Doktrin, wie neuerdings behauptet i&#x017F;t, den Gedanken<lb/>
einer &#x017F;olchen Scheidung er&#x017F;t dem römi&#x017F;chen Recht hätte entneh-<lb/>
men mü&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o brauchten wir die&#x017F;e Entlehnung nicht zu be-<lb/>
dauern, &#x017F;ondern uns nur zu &#x017F;chämen, die einfache Wahrheit,<lb/>
daß die Per&#x017F;önlichkeit ihr Recht mit auf die Welt bringt, ein<lb/>
Recht von Gottes Gnaden, das jeder Staat re&#x017F;pektiren &#x017F;oll,<lb/>
nicht von &#x017F;elb&#x017F;t gefunden zu haben. Mit die&#x017F;er Abgränzung der<lb/>
Rechts&#x017F;phären des Staats und des Einzelnen vertrug &#x017F;ich aber<lb/>
in Rom das innig&#x017F;te Verhältniß beider &#x017F;ehr wohl, &#x017F;o wie die<lb/>
rechtliche Ver&#x017F;chiedenheit zweier Per&#x017F;onen der völligen Einigung<lb/>
der&#x017F;elben in der Liebe nicht im Wege &#x017F;teht. Die Liebe verlangt<lb/>
nicht, daß die rechtliche Scheidelinie hinwegfalle, denn für <hi rendition="#g">&#x017F;ie</hi><lb/>
exi&#x017F;tirt die&#x017F;e Schranke nicht, &#x017F;ie über&#x017F;pringt &#x017F;ie. So po&#x017F;tulirte<lb/>
das römi&#x017F;che <hi rendition="#g">Rechtsgefühl</hi> jene Demarkationslinie zwi&#x017F;chen<lb/>
dem Recht des Subjekts und dem des Staats, aber nicht, da-<lb/>
mit &#x017F;ich eine egoi&#x017F;ti&#x017F;che, engherzige Ge&#x017F;innung in Sicherheit<lb/>
hinter die&#x017F;elbe zurückziehe, &#x017F;ondern damit die <hi rendition="#g">freie</hi> Hingabe<lb/>
und Aufopferung ihren Werth und ihre Ehre habe. Wie kalt,<lb/>
wie fremd, wie liebeleer i&#x017F;t im allgemeinen das heutige Ver-<lb/>
hältniß des Bürgers zum Staat; wie warm, wie innig, wie<lb/>
von wirklicher Liebe be&#x017F;eelt in Rom! Der heutigen Vor&#x017F;tellung<lb/>
er&#x017F;cheint der Staat als ab&#x017F;tracte dem Einzelnen <hi rendition="#g">gegenüber</hi><lb/>
&#x017F;tehende Per&#x017F;önlichkeit, der römi&#x017F;chen als die höhere, den Ein-<lb/>
zelnen <hi rendition="#g">umfa&#x017F;&#x017F;ende</hi> und durch ihn mitgebildete Einheit. <note xml:id="seg2pn_35_1" next="#seg2pn_35_2" place="foot" n="362)">Daher auch die Auffa&#x017F;&#x017F;ung vom Vermögen des Staats eine &#x017F;o völ-<lb/>
lig ver&#x017F;chiedene. Uns er&#x017F;cheint da&#x017F;&#x017F;elbe als Eigenthum des Subjektes Staat,<lb/>
al&#x017F;o als fremdes, dem Römer als &#x017F;ein eignes, ihm mit &#x017F;einen Geno&#x017F;&#x017F;en ge-</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Jhering, Gei&#x017F;t d. röm. Rechts. <hi rendition="#aq">II.</hi> 16</fw><lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0255] A. Stellung des Indiv. Die Wohlfahrtsfrage. §. 34. kümmert habe. Gelingt es uns das Gegentheil nachzuweiſen, ſo wird damit jeder Zweifel über das wahre Verhältniß des Staats zum Syſtem der Freiheit beſeitigt ſein. Daß das Verhältniß des Bürgers zum Staat in Rom ein viel innigeres war, als heutzutage, iſt bekannt. Das römiſche Rechtsgefühl wußte allerdings das Recht des Einzelnen von dem des Staats ſehr wohl zu trennen, und wenn wirklich die natur- rechtliche Doktrin, wie neuerdings behauptet iſt, den Gedanken einer ſolchen Scheidung erſt dem römiſchen Recht hätte entneh- men müſſen, ſo brauchten wir dieſe Entlehnung nicht zu be- dauern, ſondern uns nur zu ſchämen, die einfache Wahrheit, daß die Perſönlichkeit ihr Recht mit auf die Welt bringt, ein Recht von Gottes Gnaden, das jeder Staat reſpektiren ſoll, nicht von ſelbſt gefunden zu haben. Mit dieſer Abgränzung der Rechtsſphären des Staats und des Einzelnen vertrug ſich aber in Rom das innigſte Verhältniß beider ſehr wohl, ſo wie die rechtliche Verſchiedenheit zweier Perſonen der völligen Einigung derſelben in der Liebe nicht im Wege ſteht. Die Liebe verlangt nicht, daß die rechtliche Scheidelinie hinwegfalle, denn für ſie exiſtirt dieſe Schranke nicht, ſie überſpringt ſie. So poſtulirte das römiſche Rechtsgefühl jene Demarkationslinie zwiſchen dem Recht des Subjekts und dem des Staats, aber nicht, da- mit ſich eine egoiſtiſche, engherzige Geſinnung in Sicherheit hinter dieſelbe zurückziehe, ſondern damit die freie Hingabe und Aufopferung ihren Werth und ihre Ehre habe. Wie kalt, wie fremd, wie liebeleer iſt im allgemeinen das heutige Ver- hältniß des Bürgers zum Staat; wie warm, wie innig, wie von wirklicher Liebe beſeelt in Rom! Der heutigen Vorſtellung erſcheint der Staat als abſtracte dem Einzelnen gegenüber ſtehende Perſönlichkeit, der römiſchen als die höhere, den Ein- zelnen umfaſſende und durch ihn mitgebildete Einheit. 362) 362) Daher auch die Auffaſſung vom Vermögen des Staats eine ſo völ- lig verſchiedene. Uns erſcheint daſſelbe als Eigenthum des Subjektes Staat, alſo als fremdes, dem Römer als ſein eignes, ihm mit ſeinen Genoſſen ge- Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 16

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/255
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/255>, abgerufen am 02.05.2024.