Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

hatte. Es war Romeo und Julie, so wie es Weisse
dem deutschen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das
Shakespearische Original, daher wollte er gern sehen, wie die-
ses Stück von der im Tragischen so berühmten Madam Abt,
welche die Hauptrolle spielte, ausgeführt würde.

Auf dem Parterre überfiel ihn ein sehr trauriges Gefühl,
ohne zu wissen, wo es herkam. Er hatte die schönsten Briefe
von den Seinigen, sowohl aus dem Salen'schen Lande, als
auch von Rasenheim. Er ging nach Hause, und besann
sich, wo das wohl herrühren möchte. Doch es verschwand
wieder, Stilling bekümmerte sich also nicht weiter darum.

Des Dienstags vor Pfingsten hatte der Sohn eines Profes-
sors Hochzeit, deßwegen waren keine Collegia. Stilling be-
schloß also, diesen Tag in seinem Zimmer zu bleiben, und
für sich zu arbeiten. Um neun Uhr überfiel ihn ein plötzli-
cher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er
wußte nicht, wie ihm geschah. Er stand auf, ging im Zim-
mer auf und ab, und nun fühlte er einen unwiderstehlichen
Trieb, nach Hause zu reisen. Er erschrack über diesen Zufall,
und überdachte den Schaden, der ihm sowohl in Ansehung
seines Geldes, als auch seines Studirens, dadurch zuwachsen
könnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondrische Grille
sey, suchte sichs deßwegen mit Gewalt aus dem Sinn zu
schlagen, und setzte sich also wieder hin an seine Geschäfte.
Allein die Unruhe ward so groß, daß er wieder aufstehen
mußte. Nun wurde er recht betrübt; es war Etwas in ihm,
das ihn mit Gewalt andrang, nach Hause zu reisen.

Stilling wußte hier weder Rath noch Trost. Er stellte
sich vor, was man von ihm denken könnte, wenn er so auf
Geradewohl fünfzig Meilen weit reisen, und vielleicht zu Hause
alles im besten Wohlstand antreffen würde. Da aber die Be-
ängstigung und der Trieb gar nicht nachlassen wollte, so be-
gab er sich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja sein
Wille sey, daß er nach Hause reisen müßte, so möchte er ihm
doch sichere Gewißheit geben: warum? Indem er so bei sich
seufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R... herein ins
Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:


hatte. Es war Romeo und Julie, ſo wie es Weiſſe
dem deutſchen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das
Shakespeariſche Original, daher wollte er gern ſehen, wie die-
ſes Stuͤck von der im Tragiſchen ſo beruͤhmten Madam Abt,
welche die Hauptrolle ſpielte, ausgefuͤhrt wuͤrde.

Auf dem Parterre uͤberfiel ihn ein ſehr trauriges Gefuͤhl,
ohne zu wiſſen, wo es herkam. Er hatte die ſchoͤnſten Briefe
von den Seinigen, ſowohl aus dem Salen’ſchen Lande, als
auch von Raſenheim. Er ging nach Hauſe, und beſann
ſich, wo das wohl herruͤhren moͤchte. Doch es verſchwand
wieder, Stilling bekuͤmmerte ſich alſo nicht weiter darum.

Des Dienſtags vor Pfingſten hatte der Sohn eines Profeſ-
ſors Hochzeit, deßwegen waren keine Collegia. Stilling be-
ſchloß alſo, dieſen Tag in ſeinem Zimmer zu bleiben, und
fuͤr ſich zu arbeiten. Um neun Uhr uͤberfiel ihn ein ploͤtzli-
cher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er
wußte nicht, wie ihm geſchah. Er ſtand auf, ging im Zim-
mer auf und ab, und nun fuͤhlte er einen unwiderſtehlichen
Trieb, nach Hauſe zu reiſen. Er erſchrack uͤber dieſen Zufall,
und uͤberdachte den Schaden, der ihm ſowohl in Anſehung
ſeines Geldes, als auch ſeines Studirens, dadurch zuwachſen
koͤnnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondriſche Grille
ſey, ſuchte ſichs deßwegen mit Gewalt aus dem Sinn zu
ſchlagen, und ſetzte ſich alſo wieder hin an ſeine Geſchaͤfte.
Allein die Unruhe ward ſo groß, daß er wieder aufſtehen
mußte. Nun wurde er recht betruͤbt; es war Etwas in ihm,
das ihn mit Gewalt andrang, nach Hauſe zu reiſen.

Stilling wußte hier weder Rath noch Troſt. Er ſtellte
ſich vor, was man von ihm denken koͤnnte, wenn er ſo auf
Geradewohl fuͤnfzig Meilen weit reiſen, und vielleicht zu Hauſe
alles im beſten Wohlſtand antreffen wuͤrde. Da aber die Be-
aͤngſtigung und der Trieb gar nicht nachlaſſen wollte, ſo be-
gab er ſich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja ſein
Wille ſey, daß er nach Hauſe reiſen muͤßte, ſo moͤchte er ihm
doch ſichere Gewißheit geben: warum? Indem er ſo bei ſich
ſeufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R… herein ins
Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0286" n="278"/>
hatte. Es war <hi rendition="#g">Romeo</hi> und <hi rendition="#g">Julie</hi>, &#x017F;o wie es <hi rendition="#g">Wei&#x017F;&#x017F;e</hi><lb/>
dem deut&#x017F;chen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das<lb/>
Shakespeari&#x017F;che Original, daher wollte er gern &#x017F;ehen, wie die-<lb/>
&#x017F;es Stu&#x0364;ck von der im Tragi&#x017F;chen &#x017F;o beru&#x0364;hmten Madam <hi rendition="#g">Abt</hi>,<lb/>
welche die Hauptrolle &#x017F;pielte, ausgefu&#x0364;hrt wu&#x0364;rde.</p><lb/>
            <p>Auf dem Parterre u&#x0364;berfiel ihn ein &#x017F;ehr trauriges Gefu&#x0364;hl,<lb/>
ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en, wo es herkam. Er hatte die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Briefe<lb/>
von den Seinigen, &#x017F;owohl aus dem Salen&#x2019;&#x017F;chen Lande, als<lb/>
auch von <hi rendition="#g">Ra&#x017F;enheim</hi>. Er ging nach Hau&#x017F;e, und be&#x017F;ann<lb/>
&#x017F;ich, wo das wohl herru&#x0364;hren mo&#x0364;chte. Doch es ver&#x017F;chwand<lb/>
wieder, <hi rendition="#g">Stilling</hi> beku&#x0364;mmerte &#x017F;ich al&#x017F;o nicht weiter darum.</p><lb/>
            <p>Des Dien&#x017F;tags vor Pfing&#x017F;ten hatte der Sohn eines Profe&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ors Hochzeit, deßwegen waren keine Collegia. <hi rendition="#g">Stilling</hi> be-<lb/>
&#x017F;chloß al&#x017F;o, die&#x017F;en Tag in &#x017F;einem Zimmer zu bleiben, und<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;ich zu arbeiten. Um neun Uhr u&#x0364;berfiel ihn ein plo&#x0364;tzli-<lb/>
cher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er<lb/>
wußte nicht, wie ihm ge&#x017F;chah. Er &#x017F;tand auf, ging im Zim-<lb/>
mer auf und ab, und nun fu&#x0364;hlte er einen unwider&#x017F;tehlichen<lb/>
Trieb, nach Hau&#x017F;e zu rei&#x017F;en. Er er&#x017F;chrack u&#x0364;ber die&#x017F;en Zufall,<lb/>
und u&#x0364;berdachte den Schaden, der ihm &#x017F;owohl in An&#x017F;ehung<lb/>
&#x017F;eines Geldes, als auch &#x017F;eines Studirens, dadurch zuwach&#x017F;en<lb/>
ko&#x0364;nnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondri&#x017F;che Grille<lb/>
&#x017F;ey, &#x017F;uchte &#x017F;ichs deßwegen mit Gewalt aus dem Sinn zu<lb/>
&#x017F;chlagen, und &#x017F;etzte &#x017F;ich al&#x017F;o wieder hin an &#x017F;eine Ge&#x017F;cha&#x0364;fte.<lb/>
Allein die Unruhe ward &#x017F;o groß, daß er wieder auf&#x017F;tehen<lb/>
mußte. Nun wurde er recht betru&#x0364;bt; es war Etwas in ihm,<lb/>
das ihn mit Gewalt andrang, nach Hau&#x017F;e zu rei&#x017F;en.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> wußte hier weder Rath noch Tro&#x017F;t. Er &#x017F;tellte<lb/>
&#x017F;ich vor, was man von ihm denken ko&#x0364;nnte, wenn er &#x017F;o auf<lb/>
Geradewohl fu&#x0364;nfzig Meilen weit rei&#x017F;en, und vielleicht zu Hau&#x017F;e<lb/>
alles im be&#x017F;ten Wohl&#x017F;tand antreffen wu&#x0364;rde. Da aber die Be-<lb/>
a&#x0364;ng&#x017F;tigung und der Trieb gar nicht nachla&#x017F;&#x017F;en wollte, &#x017F;o be-<lb/>
gab er &#x017F;ich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja &#x017F;ein<lb/>
Wille &#x017F;ey, daß er nach Hau&#x017F;e rei&#x017F;en mu&#x0364;ßte, &#x017F;o mo&#x0364;chte er ihm<lb/>
doch &#x017F;ichere Gewißheit geben: warum? Indem er &#x017F;o bei &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;eufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R&#x2026; herein ins<lb/>
Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[278/0286] hatte. Es war Romeo und Julie, ſo wie es Weiſſe dem deutſchen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das Shakespeariſche Original, daher wollte er gern ſehen, wie die- ſes Stuͤck von der im Tragiſchen ſo beruͤhmten Madam Abt, welche die Hauptrolle ſpielte, ausgefuͤhrt wuͤrde. Auf dem Parterre uͤberfiel ihn ein ſehr trauriges Gefuͤhl, ohne zu wiſſen, wo es herkam. Er hatte die ſchoͤnſten Briefe von den Seinigen, ſowohl aus dem Salen’ſchen Lande, als auch von Raſenheim. Er ging nach Hauſe, und beſann ſich, wo das wohl herruͤhren moͤchte. Doch es verſchwand wieder, Stilling bekuͤmmerte ſich alſo nicht weiter darum. Des Dienſtags vor Pfingſten hatte der Sohn eines Profeſ- ſors Hochzeit, deßwegen waren keine Collegia. Stilling be- ſchloß alſo, dieſen Tag in ſeinem Zimmer zu bleiben, und fuͤr ſich zu arbeiten. Um neun Uhr uͤberfiel ihn ein ploͤtzli- cher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er wußte nicht, wie ihm geſchah. Er ſtand auf, ging im Zim- mer auf und ab, und nun fuͤhlte er einen unwiderſtehlichen Trieb, nach Hauſe zu reiſen. Er erſchrack uͤber dieſen Zufall, und uͤberdachte den Schaden, der ihm ſowohl in Anſehung ſeines Geldes, als auch ſeines Studirens, dadurch zuwachſen koͤnnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondriſche Grille ſey, ſuchte ſichs deßwegen mit Gewalt aus dem Sinn zu ſchlagen, und ſetzte ſich alſo wieder hin an ſeine Geſchaͤfte. Allein die Unruhe ward ſo groß, daß er wieder aufſtehen mußte. Nun wurde er recht betruͤbt; es war Etwas in ihm, das ihn mit Gewalt andrang, nach Hauſe zu reiſen. Stilling wußte hier weder Rath noch Troſt. Er ſtellte ſich vor, was man von ihm denken koͤnnte, wenn er ſo auf Geradewohl fuͤnfzig Meilen weit reiſen, und vielleicht zu Hauſe alles im beſten Wohlſtand antreffen wuͤrde. Da aber die Be- aͤngſtigung und der Trieb gar nicht nachlaſſen wollte, ſo be- gab er ſich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja ſein Wille ſey, daß er nach Hauſe reiſen muͤßte, ſo moͤchte er ihm doch ſichere Gewißheit geben: warum? Indem er ſo bei ſich ſeufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R… herein ins Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/286
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/286>, abgerufen am 16.06.2024.