Heinrich Stilling's Alter, von ihm selbst beschrieben.
Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines sieben und siebenzigsten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkämpf- ter körperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkräftungen, durch- weht mich gleichsam ein heiliger Schauer. Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele vorüber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt ist, den ich erst lüften werde, wenn meine Hülle im Grabe ruht und der Auferstehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig- keit, Seligkeit durch die Versöhnungsgnade meines himmlischen Führers wird von diesem Bilde mein ganzes Wesen durchstrahlen. Hallelujah!
Es sieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be- schrieben habe. Mein Alter und meine Jugend sind gar ver- schiedene Standpunkte; ich sitze nicht mehr im kleinen dunkeln Stübchen zwischen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptisch, und nähe für den Nachbar Jakob an einem Brustlatz, oder mache Knöpfe an den Sonntagsrock für Schuhmachers Pe- ter. Eberhard Stilling schreitet nicht mehr im leinenen Kittel kräftig umher, und Margareth kommt nicht mehr emsig, um hinter dem Ofen im bunten Kästchen Salz in die Suppe zu holen. Nicht mehr schnurren die Räder meiner blü- henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres Gesanges ist längst verhallt.
Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns stau- nenden Zuhörern von seinen neuen Entdeckungen in der Elektri-
Stilling's sämmtl. Schriften. I. Band. 40
Heinrich Stilling’s Alter, von ihm ſelbſt beſchrieben.
Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines ſieben und ſiebenzigſten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf- ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch- weht mich gleichſam ein heiliger Schauer. Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt iſt, den ich erſt luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht und der Auferſtehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig- keit, Seligkeit durch die Verſoͤhnungsgnade meines himmliſchen Fuͤhrers wird von dieſem Bilde mein ganzes Weſen durchſtrahlen. Hallelujah!
Es ſieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be- ſchrieben habe. Mein Alter und meine Jugend ſind gar ver- ſchiedene Standpunkte; ich ſitze nicht mehr im kleinen dunkeln Stuͤbchen zwiſchen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptiſch, und naͤhe fuͤr den Nachbar Jakob an einem Bruſtlatz, oder mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr Schuhmachers Pe- ter. Eberhard Stilling ſchreitet nicht mehr im leinenen Kittel kraͤftig umher, und Margareth kommt nicht mehr emſig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤſtchen Salz in die Suppe zu holen. Nicht mehr ſchnurren die Raͤder meiner bluͤ- henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres Geſanges iſt laͤngſt verhallt.
Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns ſtau- nenden Zuhoͤrern von ſeinen neuen Entdeckungen in der Elektri-
Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 40
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0621"n="[613]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head><hirendition="#g">Heinrich Stilling’s Alter</hi>,<lb/>
von ihm ſelbſt beſchrieben.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#in">B</hi>ald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines <hirendition="#g">ſieben</hi><lb/>
und <hirendition="#g">ſiebenzigſten</hi> Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf-<lb/>
ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch-<lb/>
weht mich gleichſam ein heiliger Schauer. Die große Reihe<lb/>
durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor<lb/>
meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie<lb/>
ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt<lb/>
iſt, den ich erſt luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht<lb/>
und der Auferſtehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig-<lb/>
keit, Seligkeit durch die Verſoͤhnungsgnade meines himmliſchen<lb/>
Fuͤhrers wird von dieſem Bilde mein ganzes Weſen durchſtrahlen.<lb/><hirendition="#g">Hallelujah</hi>!</p><lb/><p>Es ſieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich<lb/>
meine Umgebungen in <hirendition="#g">Heinrich Stillings Jugend</hi> be-<lb/>ſchrieben habe. Mein Alter und meine Jugend ſind gar ver-<lb/>ſchiedene Standpunkte; ich ſitze nicht mehr im kleinen dunkeln<lb/>
Stuͤbchen zwiſchen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptiſch,<lb/>
und naͤhe fuͤr den Nachbar <hirendition="#g">Jakob</hi> an einem Bruſtlatz, oder<lb/>
mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr <hirendition="#g">Schuhmachers Pe-<lb/>
ter. Eberhard Stilling</hi>ſchreitet nicht mehr im leinenen<lb/>
Kittel kraͤftig umher, und <hirendition="#g">Margareth</hi> kommt nicht mehr<lb/>
emſig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤſtchen Salz in die<lb/>
Suppe zu holen. Nicht mehr ſchnurren die Raͤder meiner bluͤ-<lb/>
henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres<lb/>
Geſanges iſt laͤngſt verhallt.</p><lb/><p><hirendition="#g">Oheim Johann Stilling</hi> kommt nicht mehr, uns ſtau-<lb/>
nenden Zuhoͤrern von ſeinen neuen Entdeckungen in der Elektri-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Stilling’s ſämmtl. Schriften. <hirendition="#aq">I.</hi> Band. 40</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[[613]/0621]
Heinrich Stilling’s Alter,
von ihm ſelbſt beſchrieben.
Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines ſieben
und ſiebenzigſten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf-
ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch-
weht mich gleichſam ein heiliger Schauer. Die große Reihe
durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor
meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie
ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt
iſt, den ich erſt luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht
und der Auferſtehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig-
keit, Seligkeit durch die Verſoͤhnungsgnade meines himmliſchen
Fuͤhrers wird von dieſem Bilde mein ganzes Weſen durchſtrahlen.
Hallelujah!
Es ſieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich
meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be-
ſchrieben habe. Mein Alter und meine Jugend ſind gar ver-
ſchiedene Standpunkte; ich ſitze nicht mehr im kleinen dunkeln
Stuͤbchen zwiſchen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptiſch,
und naͤhe fuͤr den Nachbar Jakob an einem Bruſtlatz, oder
mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr Schuhmachers Pe-
ter. Eberhard Stilling ſchreitet nicht mehr im leinenen
Kittel kraͤftig umher, und Margareth kommt nicht mehr
emſig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤſtchen Salz in die
Suppe zu holen. Nicht mehr ſchnurren die Raͤder meiner bluͤ-
henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres
Geſanges iſt laͤngſt verhallt.
Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns ſtau-
nenden Zuhoͤrern von ſeinen neuen Entdeckungen in der Elektri-
Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 40
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [613]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/621>, abgerufen am 09.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.