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Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Geschichte des Erd-Cörpers. Berlin, 1771.

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XI. Abschn. Von der Dauer der Welt.
ben weit erhaben zu seyn glaubten, und in diesem
Stolze so weit| gegangen waren, daß sie Religion und
Geister vor lächerliche Ausgeburten des Aberglaubens
hielten, und dennoch glaubten, daß die Chiromantie
und das Crystallensehn ihren Grund haben könnten;
indem es möglich wäre, daß sie auf Kräften der Na-
tur beruheten, die uns unbekannt wären. So sehr ist
die menschliche Vernunft bemühet, ihrer unersättlichen
Begierde, das Zukünftige zu wissen, eine Farbe an-
zustreichen.

Man darf sich also gar nicht wundern, wenn es
zu allen Zeiten, und in allen Religionen Leute gege-
ben hat, welche das zukünftige Schicksal der Welt ha-
ben vorher bestimmen wollen. Es scheinet so gar ein
wesentlicher Articul aller Religionen geworden zu seyn,
daß sie zugleich den Untergang der Welt, und die Ver-
wandlungen oder Verherlichungen der alsdenn entste-
henden neuen Welt, oder des Aufenthaltes ihrer See-
ligen ihren Anhängern lehren und bekannt machen.
Gemeiniglich haben sie dieses auf sehr entfernte und un-
bestimmte Zeiten hinausgesetzt. Allein es hat in kei-
ner Religion an Leuten gemangelt, welche die Unge-
wißheit, in welcher die Stifter der Religionen hierin-
nen ihre Anhänger gelassen haben, verbessern zu kön-
nen geglaubt haben; und sie haben den eigentlichen
Zeitpunct genau bestimmt, in welchem der Untergang
der Welt gewiß erfolgen sollte. Man könnte ein lan-
ges Register von denenjenigen hersetzen, die nur seit
500 Jahren Europa mit ihren Phantasien in Schre-
cken zu setzen versucht haben. Glücklich sind noch die-
jenigen gewesen, welche ein frühzeitiger Tod dem all-

gemeinen

XI. Abſchn. Von der Dauer der Welt.
ben weit erhaben zu ſeyn glaubten, und in dieſem
Stolze ſo weit| gegangen waren, daß ſie Religion und
Geiſter vor laͤcherliche Ausgeburten des Aberglaubens
hielten, und dennoch glaubten, daß die Chiromantie
und das Cryſtallenſehn ihren Grund haben koͤnnten;
indem es moͤglich waͤre, daß ſie auf Kraͤften der Na-
tur beruheten, die uns unbekannt waͤren. So ſehr iſt
die menſchliche Vernunft bemuͤhet, ihrer unerſaͤttlichen
Begierde, das Zukuͤnftige zu wiſſen, eine Farbe an-
zuſtreichen.

Man darf ſich alſo gar nicht wundern, wenn es
zu allen Zeiten, und in allen Religionen Leute gege-
ben hat, welche das zukuͤnftige Schickſal der Welt ha-
ben vorher beſtimmen wollen. Es ſcheinet ſo gar ein
weſentlicher Articul aller Religionen geworden zu ſeyn,
daß ſie zugleich den Untergang der Welt, und die Ver-
wandlungen oder Verherlichungen der alsdenn entſte-
henden neuen Welt, oder des Aufenthaltes ihrer See-
ligen ihren Anhaͤngern lehren und bekannt machen.
Gemeiniglich haben ſie dieſes auf ſehr entfernte und un-
beſtimmte Zeiten hinausgeſetzt. Allein es hat in kei-
ner Religion an Leuten gemangelt, welche die Unge-
wißheit, in welcher die Stifter der Religionen hierin-
nen ihre Anhaͤnger gelaſſen haben, verbeſſern zu koͤn-
nen geglaubt haben; und ſie haben den eigentlichen
Zeitpunct genau beſtimmt, in welchem der Untergang
der Welt gewiß erfolgen ſollte. Man koͤnnte ein lan-
ges Regiſter von denenjenigen herſetzen, die nur ſeit
500 Jahren Europa mit ihren Phantaſien in Schre-
cken zu ſetzen verſucht haben. Gluͤcklich ſind noch die-
jenigen geweſen, welche ein fruͤhzeitiger Tod dem all-

gemeinen
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[324/0352] XI. Abſchn. Von der Dauer der Welt. ben weit erhaben zu ſeyn glaubten, und in dieſem Stolze ſo weit| gegangen waren, daß ſie Religion und Geiſter vor laͤcherliche Ausgeburten des Aberglaubens hielten, und dennoch glaubten, daß die Chiromantie und das Cryſtallenſehn ihren Grund haben koͤnnten; indem es moͤglich waͤre, daß ſie auf Kraͤften der Na- tur beruheten, die uns unbekannt waͤren. So ſehr iſt die menſchliche Vernunft bemuͤhet, ihrer unerſaͤttlichen Begierde, das Zukuͤnftige zu wiſſen, eine Farbe an- zuſtreichen. Man darf ſich alſo gar nicht wundern, wenn es zu allen Zeiten, und in allen Religionen Leute gege- ben hat, welche das zukuͤnftige Schickſal der Welt ha- ben vorher beſtimmen wollen. Es ſcheinet ſo gar ein weſentlicher Articul aller Religionen geworden zu ſeyn, daß ſie zugleich den Untergang der Welt, und die Ver- wandlungen oder Verherlichungen der alsdenn entſte- henden neuen Welt, oder des Aufenthaltes ihrer See- ligen ihren Anhaͤngern lehren und bekannt machen. Gemeiniglich haben ſie dieſes auf ſehr entfernte und un- beſtimmte Zeiten hinausgeſetzt. Allein es hat in kei- ner Religion an Leuten gemangelt, welche die Unge- wißheit, in welcher die Stifter der Religionen hierin- nen ihre Anhaͤnger gelaſſen haben, verbeſſern zu koͤn- nen geglaubt haben; und ſie haben den eigentlichen Zeitpunct genau beſtimmt, in welchem der Untergang der Welt gewiß erfolgen ſollte. Man koͤnnte ein lan- ges Regiſter von denenjenigen herſetzen, die nur ſeit 500 Jahren Europa mit ihren Phantaſien in Schre- cken zu ſetzen verſucht haben. Gluͤcklich ſind noch die- jenigen geweſen, welche ein fruͤhzeitiger Tod dem all- gemeinen

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Zitationshilfe: Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Geschichte des Erd-Cörpers. Berlin, 1771, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_geschichte_1771/352>, abgerufen am 28.04.2024.