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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Die Lehrjahre.
zeitlicher und örtlicher Gestalt erscheint, es selbst ist kein Product
der Zeit und Umgebung. Die letztere liefert nur die Elemente,
aus denen sich der Charakter aufbaut. Diese Hauptursache verliert
man beim Schürfen nach kleinen Ursachen oft aus dem Auge.

Der äusseren Einwirkungen sind unendlich viele, der Zahl
und Art nach. Wer sich nun die Mühe nimmt, die Umgebung
eines Mannes auf die Möglichkeit dieser Einflüsse zu studiren,
der wird, wenn er etwas von Induction gehört hat, auch die Er-
scheinungen mit in Rechnung zu ziehen haben, an welchen der
Werdende gleichgültig oder ablehnend vorübergegangen ist. Die
Abwägung von Anziehung und Abstossung wird darauf führen,
dass hier eine gewisse Entschiedenheit der Wahl und der Wider-
standskraft vorliegt, die annehmen lässt, dass er auch diejenigen,
deren Einwirkung er sich überlassen hat, nur ausgezeichnet hat,
eben weil sie mit seiner ursprünglichen Richtung übereinstimmten.

Gewiss, der Historiker hat Einflüsse und Aneignungen in
der Erzählung der Lehrjahre mit Fleiss aufzusuchen; aber zeit-
gemäss dürfte wol der Rath sein, den Eifer in der Entdeckung
obscurer Ascendenten glanzvoller Grössen etwas zu mässigen.

Monographisten arbeiten dadurch oft ihrem eigenen Inter-
esse entgegen, indem sie den Punkt übersehen, der mehr als
alles andere ihren Heros erheben würde. Etre maeitre, sagte
W. Bürger, c'est ne ressembler a personne. Man sollte also bei
wirklichen Meistern eigentlich an Niemand erinnert werden --
statt an alle. In dem vielverzweigten Gewächs der Kunst lassen
sich freilich für jeden Zug irgendwo Anknüpfungspunkte ent-
decken, und wer sich darauf verlegt, wird, bei gutem Willen,
selbst bei einem Bonarroti, soviele finden können, dass der gläu-
bige Leser zuletzt ausruft:

"Was ist nun an dem ganzen Kerl Original zu nennen?"

Man sollte sich aber erst über die Erfordernisse eines Be-
weises verständigen, wozu mehr gehört als "an etwas erinnert"
zu werden; auch wird man finden, dass die wirklichen Entleh-
nungen meist gegenständliche oder nebensächliche Einzelheiten
betreffen.

Jemehr es aber gelingt, einem Meister wirklich nahe zu
kommen und ihn durch unermüdliches Fragen zum Sprechen zu
bringen, desto strenger erscheint er in seinen Werken wie in eine
eigene Welt eingeschlossen. Um mich scholastisch auszudrücken,
jenes Allgemeine von Stamm, Schule und Zeit, das er von andern
hat, mit andern theilt und auf andere vererbt, ist nur sein secun-

Die Lehrjahre.
zeitlicher und örtlicher Gestalt erscheint, es selbst ist kein Product
der Zeit und Umgebung. Die letztere liefert nur die Elemente,
aus denen sich der Charakter aufbaut. Diese Hauptursache verliert
man beim Schürfen nach kleinen Ursachen oft aus dem Auge.

Der äusseren Einwirkungen sind unendlich viele, der Zahl
und Art nach. Wer sich nun die Mühe nimmt, die Umgebung
eines Mannes auf die Möglichkeit dieser Einflüsse zu studiren,
der wird, wenn er etwas von Induction gehört hat, auch die Er-
scheinungen mit in Rechnung zu ziehen haben, an welchen der
Werdende gleichgültig oder ablehnend vorübergegangen ist. Die
Abwägung von Anziehung und Abstossung wird darauf führen,
dass hier eine gewisse Entschiedenheit der Wahl und der Wider-
standskraft vorliegt, die annehmen lässt, dass er auch diejenigen,
deren Einwirkung er sich überlassen hat, nur ausgezeichnet hat,
eben weil sie mit seiner ursprünglichen Richtung übereinstimmten.

Gewiss, der Historiker hat Einflüsse und Aneignungen in
der Erzählung der Lehrjahre mit Fleiss aufzusuchen; aber zeit-
gemäss dürfte wol der Rath sein, den Eifer in der Entdeckung
obscurer Ascendenten glanzvoller Grössen etwas zu mässigen.

Monographisten arbeiten dadurch oft ihrem eigenen Inter-
esse entgegen, indem sie den Punkt übersehen, der mehr als
alles andere ihren Heros erheben würde. Être maître, sagte
W. Bürger, c’est ne ressembler à personne. Man sollte also bei
wirklichen Meistern eigentlich an Niemand erinnert werden —
statt an alle. In dem vielverzweigten Gewächs der Kunst lassen
sich freilich für jeden Zug irgendwo Anknüpfungspunkte ent-
decken, und wer sich darauf verlegt, wird, bei gutem Willen,
selbst bei einem Bonarroti, soviele finden können, dass der gläu-
bige Leser zuletzt ausruft:

„Was ist nun an dem ganzen Kerl Original zu nennen?“

Man sollte sich aber erst über die Erfordernisse eines Be-
weises verständigen, wozu mehr gehört als „an etwas erinnert“
zu werden; auch wird man finden, dass die wirklichen Entleh-
nungen meist gegenständliche oder nebensächliche Einzelheiten
betreffen.

Jemehr es aber gelingt, einem Meister wirklich nahe zu
kommen und ihn durch unermüdliches Fragen zum Sprechen zu
bringen, desto strenger erscheint er in seinen Werken wie in eine
eigene Welt eingeschlossen. Um mich scholastisch auszudrücken,
jenes Allgemeine von Stamm, Schule und Zeit, das er von andern
hat, mit andern theilt und auf andere vererbt, ist nur sein secun-

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[123/0143] Die Lehrjahre. zeitlicher und örtlicher Gestalt erscheint, es selbst ist kein Product der Zeit und Umgebung. Die letztere liefert nur die Elemente, aus denen sich der Charakter aufbaut. Diese Hauptursache verliert man beim Schürfen nach kleinen Ursachen oft aus dem Auge. Der äusseren Einwirkungen sind unendlich viele, der Zahl und Art nach. Wer sich nun die Mühe nimmt, die Umgebung eines Mannes auf die Möglichkeit dieser Einflüsse zu studiren, der wird, wenn er etwas von Induction gehört hat, auch die Er- scheinungen mit in Rechnung zu ziehen haben, an welchen der Werdende gleichgültig oder ablehnend vorübergegangen ist. Die Abwägung von Anziehung und Abstossung wird darauf führen, dass hier eine gewisse Entschiedenheit der Wahl und der Wider- standskraft vorliegt, die annehmen lässt, dass er auch diejenigen, deren Einwirkung er sich überlassen hat, nur ausgezeichnet hat, eben weil sie mit seiner ursprünglichen Richtung übereinstimmten. Gewiss, der Historiker hat Einflüsse und Aneignungen in der Erzählung der Lehrjahre mit Fleiss aufzusuchen; aber zeit- gemäss dürfte wol der Rath sein, den Eifer in der Entdeckung obscurer Ascendenten glanzvoller Grössen etwas zu mässigen. Monographisten arbeiten dadurch oft ihrem eigenen Inter- esse entgegen, indem sie den Punkt übersehen, der mehr als alles andere ihren Heros erheben würde. Être maître, sagte W. Bürger, c’est ne ressembler à personne. Man sollte also bei wirklichen Meistern eigentlich an Niemand erinnert werden — statt an alle. In dem vielverzweigten Gewächs der Kunst lassen sich freilich für jeden Zug irgendwo Anknüpfungspunkte ent- decken, und wer sich darauf verlegt, wird, bei gutem Willen, selbst bei einem Bonarroti, soviele finden können, dass der gläu- bige Leser zuletzt ausruft: „Was ist nun an dem ganzen Kerl Original zu nennen?“ Man sollte sich aber erst über die Erfordernisse eines Be- weises verständigen, wozu mehr gehört als „an etwas erinnert“ zu werden; auch wird man finden, dass die wirklichen Entleh- nungen meist gegenständliche oder nebensächliche Einzelheiten betreffen. Jemehr es aber gelingt, einem Meister wirklich nahe zu kommen und ihn durch unermüdliches Fragen zum Sprechen zu bringen, desto strenger erscheint er in seinen Werken wie in eine eigene Welt eingeschlossen. Um mich scholastisch auszudrücken, jenes Allgemeine von Stamm, Schule und Zeit, das er von andern hat, mit andern theilt und auf andere vererbt, ist nur sein secun-

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/143>, abgerufen am 06.05.2024.