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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Erstes Buch.
reiches gewesen; Pacheco, der ihn im Alter kennen lernte, nennt
ihn einen "grossen Philosophen", voll geistreicher Aussprüche,
und Verfasser einer Schrift über Malerei, Bildhauerei und Bau-
kunst.

Im Jahre 1575 also erscheint er in Toledo, das er nicht
wieder verliess (+ 1614). In diesen vierzig Jahren entfaltete er
eine kaum übersehbare Thätigkeit und füllte Castiliens Kirchen
mit Altarwerken, die Säle der Prälaten und Ritter mit Bild-
nissen. Aber nur in den allerersten hat er die venezianische
Mitgift bewahrt. Das frühste Werk, wegen dessen er wohl
nach der Tagostadt gekommen war, ist der Retablo der Kirche
S. Domingo de Silos, wo auch die architektonische Einrahmung
und die Statuen von ihm herrühren; das Mittel- und Hauptbild ist
die Asunta1). Die Bestandtheile des Altarbildes der Frari keh-
ren wieder, aber bereits ins Spanische übersetzt. Die Empor-
schwebende breitet in ekstatischer Erschütterung, waagerecht beide
Arme aus. Die Apostel sind Männer aus den Bergen von Toledo;
die stürmische Aufregung jenes Gestaltengewoges Tizians ist
verschwunden; als Castilier äussern sie den Eindruck auch des
Ausserordentlichen mit Würde, in langsam feierlicher, runder
Arm- und Fingersprache. Das Bild ist mit unglaublicher Kraft
des Helldunkels, mit reich wechselnden, tief glühenden Farben
auf die Leinwand geschleudert.

Diese Leistung eröffnete dem Griechen den Weg zur Kathe-
drale. Aufgefordert für den neuerbauten geräumigen Saal der
Sakristei das Hauptbild zu liefern, beschloss er seinen Christus
auf dem Calvarienberg im Grossen auszuführen. Diess sein Haupt-
und Meisterwerk, an einem Ehrenplatz in der reichsten Kirche
Spaniens aufgestellt, gab dort zum erstenmale eine Vorstellung
von der Kunst Tizians, seiner plastischen Kraft, seinem Leben in
Licht und Farbe, seinem Naturalismus. Theotokopuli kam sich
in seiner Eigenschaft als Colorist wie ein König vor. (S. S. 100.)

Auf der Höhe dieses Werkes hat er sich nicht halten
können. Berauscht vom Beifall, unbeirrt durch Kunstgenossen
oder Beurtheiler, vor denen er sich zu fürchten gehabt hätte, in
seinem Künstlerstolz gekränkt (!) durch das Lob, "er male wie
Tizian", verfiel er in jene wüste Manier, wo nur noch, wie in

1) Jetzt sieht man eine Copie an Ort und Stelle; das Original verschaffte sich
der Infant D. Sebastian, ein feiner Kenner und eifriger Sammler, es befindet sich
zur Zeit in Pau.

Erstes Buch.
reiches gewesen; Pacheco, der ihn im Alter kennen lernte, nennt
ihn einen „grossen Philosophen“, voll geistreicher Aussprüche,
und Verfasser einer Schrift über Malerei, Bildhauerei und Bau-
kunst.

Im Jahre 1575 also erscheint er in Toledo, das er nicht
wieder verliess († 1614). In diesen vierzig Jahren entfaltete er
eine kaum übersehbare Thätigkeit und füllte Castiliens Kirchen
mit Altarwerken, die Säle der Prälaten und Ritter mit Bild-
nissen. Aber nur in den allerersten hat er die venezianische
Mitgift bewahrt. Das frühste Werk, wegen dessen er wohl
nach der Tagostadt gekommen war, ist der Retablo der Kirche
S. Domingo de Silos, wo auch die architektonische Einrahmung
und die Statuen von ihm herrühren; das Mittel- und Hauptbild ist
die Asunta1). Die Bestandtheile des Altarbildes der Frari keh-
ren wieder, aber bereits ins Spanische übersetzt. Die Empor-
schwebende breitet in ekstatischer Erschütterung, waagerecht beide
Arme aus. Die Apostel sind Männer aus den Bergen von Toledo;
die stürmische Aufregung jenes Gestaltengewoges Tizians ist
verschwunden; als Castilier äussern sie den Eindruck auch des
Ausserordentlichen mit Würde, in langsam feierlicher, runder
Arm- und Fingersprache. Das Bild ist mit unglaublicher Kraft
des Helldunkels, mit reich wechselnden, tief glühenden Farben
auf die Leinwand geschleudert.

Diese Leistung eröffnete dem Griechen den Weg zur Kathe-
drale. Aufgefordert für den neuerbauten geräumigen Saal der
Sakristei das Hauptbild zu liefern, beschloss er seinen Christus
auf dem Calvarienberg im Grossen auszuführen. Diess sein Haupt-
und Meisterwerk, an einem Ehrenplatz in der reichsten Kirche
Spaniens aufgestellt, gab dort zum erstenmale eine Vorstellung
von der Kunst Tizians, seiner plastischen Kraft, seinem Leben in
Licht und Farbe, seinem Naturalismus. Theotokopuli kam sich
in seiner Eigenschaft als Colorist wie ein König vor. (S. S. 100.)

Auf der Höhe dieses Werkes hat er sich nicht halten
können. Berauscht vom Beifall, unbeirrt durch Kunstgenossen
oder Beurtheiler, vor denen er sich zu fürchten gehabt hätte, in
seinem Künstlerstolz gekränkt (!) durch das Lob, „er male wie
Tizian“, verfiel er in jene wüste Manier, wo nur noch, wie in

1) Jetzt sieht man eine Copie an Ort und Stelle; das Original verschaffte sich
der Infant D. Sebastian, ein feiner Kenner und eifriger Sammler, es befindet sich
zur Zeit in Pau.
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[78/0098] Erstes Buch. reiches gewesen; Pacheco, der ihn im Alter kennen lernte, nennt ihn einen „grossen Philosophen“, voll geistreicher Aussprüche, und Verfasser einer Schrift über Malerei, Bildhauerei und Bau- kunst. Im Jahre 1575 also erscheint er in Toledo, das er nicht wieder verliess († 1614). In diesen vierzig Jahren entfaltete er eine kaum übersehbare Thätigkeit und füllte Castiliens Kirchen mit Altarwerken, die Säle der Prälaten und Ritter mit Bild- nissen. Aber nur in den allerersten hat er die venezianische Mitgift bewahrt. Das frühste Werk, wegen dessen er wohl nach der Tagostadt gekommen war, ist der Retablo der Kirche S. Domingo de Silos, wo auch die architektonische Einrahmung und die Statuen von ihm herrühren; das Mittel- und Hauptbild ist die Asunta 1). Die Bestandtheile des Altarbildes der Frari keh- ren wieder, aber bereits ins Spanische übersetzt. Die Empor- schwebende breitet in ekstatischer Erschütterung, waagerecht beide Arme aus. Die Apostel sind Männer aus den Bergen von Toledo; die stürmische Aufregung jenes Gestaltengewoges Tizians ist verschwunden; als Castilier äussern sie den Eindruck auch des Ausserordentlichen mit Würde, in langsam feierlicher, runder Arm- und Fingersprache. Das Bild ist mit unglaublicher Kraft des Helldunkels, mit reich wechselnden, tief glühenden Farben auf die Leinwand geschleudert. Diese Leistung eröffnete dem Griechen den Weg zur Kathe- drale. Aufgefordert für den neuerbauten geräumigen Saal der Sakristei das Hauptbild zu liefern, beschloss er seinen Christus auf dem Calvarienberg im Grossen auszuführen. Diess sein Haupt- und Meisterwerk, an einem Ehrenplatz in der reichsten Kirche Spaniens aufgestellt, gab dort zum erstenmale eine Vorstellung von der Kunst Tizians, seiner plastischen Kraft, seinem Leben in Licht und Farbe, seinem Naturalismus. Theotokopuli kam sich in seiner Eigenschaft als Colorist wie ein König vor. (S. S. 100.) Auf der Höhe dieses Werkes hat er sich nicht halten können. Berauscht vom Beifall, unbeirrt durch Kunstgenossen oder Beurtheiler, vor denen er sich zu fürchten gehabt hätte, in seinem Künstlerstolz gekränkt (!) durch das Lob, „er male wie Tizian“, verfiel er in jene wüste Manier, wo nur noch, wie in 1) Jetzt sieht man eine Copie an Ort und Stelle; das Original verschaffte sich der Infant D. Sebastian, ein feiner Kenner und eifriger Sammler, es befindet sich zur Zeit in Pau.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/98>, abgerufen am 28.04.2024.