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Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, S. 481-494.

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gewiegelt worden; so schädlich ist es Vorurtheile zu
pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen,
die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen
sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur
Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird
vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despo¬
tism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Be¬
drükkung, aber niemals wahre Reform der Den¬
kungsart zu Stande kommen; sondern neue Vor¬
urtheile werden, eben sowohl als die alten, zum
Leitbande des gedankenlosen großen Haufens
dienen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert
als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter
allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die:
von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen
Gebrauch
zu machen. Nun höre ich aber von al¬
len Seiten rufen: räsonnirt nicht! Der Offi¬
zier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der
Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der
Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt! (Nur
ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so
viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber ge¬
horcht
!) Hier ist überall Einschränkung der Frei¬
heit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklä¬
rung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar
beförderlich? -- Ich antworte: der öffentliche
Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein,
und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu

Stan¬

gewiegelt worden; ſo ſchädlich iſt es Vorurtheile zu
pflanzen, weil ſie ſich zuletzt an denen ſelbſt rächen,
die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber geweſen
ſind. Daher kann ein Publikum nur langſam zur
Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird
vielleicht wohl ein Abfall von perſönlichem Despo¬
tism und gewinnſüchtiger oder herrſchſüchtiger Be¬
drükkung, aber niemals wahre Reform der Den¬
kungsart zu Stande kommen; ſondern neue Vor¬
urtheile werden, eben ſowohl als die alten, zum
Leitbande des gedankenloſen großen Haufens
dienen.

Zu dieſer Aufklärung aber wird nichts erfordert
als Freiheit; und zwar die unſchädlichſte unter
allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die:
von ſeiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen
Gebrauch
zu machen. Nun höre ich aber von al¬
len Seiten rufen: räſonnirt nicht! Der Offi¬
zier ſagt: räſonnirt nicht, ſondern exercirt! Der
Finanzrath: räſonnirt nicht, ſondern bezahlt! Der
Geiſtliche: räſonnirt nicht, ſondern glaubt! (Nur
ein einziger Herr in der Welt ſagt: räſonnirt, ſo
viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber ge¬
horcht
!) Hier iſt überall Einſchränkung der Frei¬
heit. Welche Einſchränkung aber iſt der Aufklä¬
rung hinderlich? welche nicht, ſondern ihr wohl gar
beförderlich? — Ich antworte: der öffentliche
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[484/0020] gewiegelt worden; ſo ſchädlich iſt es Vorurtheile zu pflanzen, weil ſie ſich zuletzt an denen ſelbſt rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber geweſen ſind. Daher kann ein Publikum nur langſam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von perſönlichem Despo¬ tism und gewinnſüchtiger oder herrſchſüchtiger Be¬ drükkung, aber niemals wahre Reform der Den¬ kungsart zu Stande kommen; ſondern neue Vor¬ urtheile werden, eben ſowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenloſen großen Haufens dienen. Zu dieſer Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unſchädlichſte unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von ſeiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von al¬ len Seiten rufen: räſonnirt nicht! Der Offi¬ zier ſagt: räſonnirt nicht, ſondern exercirt! Der Finanzrath: räſonnirt nicht, ſondern bezahlt! Der Geiſtliche: räſonnirt nicht, ſondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt ſagt: räſonnirt, ſo viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber ge¬ horcht!) Hier iſt überall Einſchränkung der Frei¬ heit. Welche Einſchränkung aber iſt der Aufklä¬ rung hinderlich? welche nicht, ſondern ihr wohl gar beförderlich? — Ich antworte: der öffentliche Gebrauch ſeiner Vernunft muß jederzeit frei ſein, und der allein kann Aufklärung unter Menſchen zu Stan¬

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, S. 481-494, hier S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_aufklaerung_1784/20>, abgerufen am 28.04.2024.