Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. I. B. III. Hauptst. Von den Triebfedern
es fodert doch, als Gebot, Achtung für ein Gesetz, das
Liebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigen Wahl,
sich diese zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott
als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn
er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben dieselbe gegen
Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten
werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen,
jemanden blos auf Befehl zu lieben. Also ist es blos
die practische Liebe, die in jenem Kern aller Gesetze
verstanden wird. Gott lieben, heißt in dieser Bedeu-
tung, seine Gebote gerne thun; den Nächsten lieben,
heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben. Das Ge-
bot aber, das dieses zur Regel macht, kann auch nicht
diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu ha-
ben,
sondern blos darnach zu streben gebieten. Denn
ein Gebot, daß man etwas gerne thun soll, ist in sich
widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu thun ob-
liege, schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem
auch bewußt wären, es gerne zu thun, ein Gebot darü-
ber ganz unnöthig, und, thun wir es zwar, aber eben
nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein
Gebot, welches diese Achtung eben zur Triebfeder der
Maxime macht, gerade der gebotenen Gesinnung zuwi-

der
wollen, einen seltsamen Contrast: Dieses würde so lauten:
Liebe dich selbst über alles, Gott aber und deinen Näch-
sten um
dein selbst willen.

I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern
es fodert doch, als Gebot, Achtung fuͤr ein Geſetz, das
Liebe befiehlt, und uͤberlaͤßt es nicht der beliebigen Wahl,
ſich dieſe zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott
als Neigung (pathologiſche Liebe) iſt unmoͤglich; denn
er iſt kein Gegenſtand der Sinne. Eben dieſelbe gegen
Menſchen iſt zwar moͤglich, kann aber nicht geboten
werden; denn es ſteht in keines Menſchen Vermoͤgen,
jemanden blos auf Befehl zu lieben. Alſo iſt es blos
die practiſche Liebe, die in jenem Kern aller Geſetze
verſtanden wird. Gott lieben, heißt in dieſer Bedeu-
tung, ſeine Gebote gerne thun; den Naͤchſten lieben,
heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausuͤben. Das Ge-
bot aber, das dieſes zur Regel macht, kann auch nicht
dieſe Geſinnung in pflichtmaͤßigen Handlungen zu ha-
ben,
ſondern blos darnach zu ſtreben gebieten. Denn
ein Gebot, daß man etwas gerne thun ſoll, iſt in ſich
widerſprechend, weil, wenn wir, was uns zu thun ob-
liege, ſchon von ſelbſt wiſſen, wenn wir uns uͤberdem
auch bewußt waͤren, es gerne zu thun, ein Gebot daruͤ-
ber ganz unnoͤthig, und, thun wir es zwar, aber eben
nicht gerne, ſondern nur aus Achtung fuͤrs Geſetz, ein
Gebot, welches dieſe Achtung eben zur Triebfeder der
Maxime macht, gerade der gebotenen Geſinnung zuwi-

der
wollen, einen ſeltſamen Contraſt: Dieſes wuͤrde ſo lauten:
Liebe dich ſelbſt uͤber alles, Gott aber und deinen Naͤch-
ſten um
dein ſelbſt willen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0156" n="148"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> B. <hi rendition="#aq">III.</hi> Haupt&#x017F;t. Von den Triebfedern</fw><lb/>
es fodert doch, als Gebot, Achtung fu&#x0364;r ein Ge&#x017F;etz, das<lb/><hi rendition="#fr">Liebe befiehlt,</hi> und u&#x0364;berla&#x0364;ßt es nicht der beliebigen Wahl,<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;e zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott<lb/>
als Neigung (pathologi&#x017F;che Liebe) i&#x017F;t unmo&#x0364;glich; denn<lb/>
er i&#x017F;t kein Gegen&#x017F;tand der Sinne. Eben die&#x017F;elbe gegen<lb/>
Men&#x017F;chen i&#x017F;t zwar mo&#x0364;glich, kann aber nicht geboten<lb/>
werden; denn es &#x017F;teht in keines Men&#x017F;chen Vermo&#x0364;gen,<lb/>
jemanden blos auf Befehl zu lieben. Al&#x017F;o i&#x017F;t es blos<lb/>
die <hi rendition="#fr">practi&#x017F;che Liebe,</hi> die in jenem Kern aller Ge&#x017F;etze<lb/>
ver&#x017F;tanden wird. Gott lieben, heißt in die&#x017F;er Bedeu-<lb/>
tung, &#x017F;eine Gebote <hi rendition="#fr">gerne</hi> thun; den Na&#x0364;ch&#x017F;ten lieben,<lb/>
heißt, alle Pflicht gegen ihn <hi rendition="#fr">gerne</hi> ausu&#x0364;ben. Das Ge-<lb/>
bot aber, das die&#x017F;es zur Regel macht, kann auch nicht<lb/>
die&#x017F;e Ge&#x017F;innung in pflichtma&#x0364;ßigen Handlungen zu <hi rendition="#fr">ha-<lb/>
ben,</hi> &#x017F;ondern blos darnach zu <hi rendition="#fr">&#x017F;treben</hi> gebieten. Denn<lb/>
ein Gebot, daß man etwas gerne thun &#x017F;oll, i&#x017F;t in &#x017F;ich<lb/>
wider&#x017F;prechend, weil, wenn wir, was uns zu thun ob-<lb/>
liege, &#x017F;chon von &#x017F;elb&#x017F;t wi&#x017F;&#x017F;en, wenn wir uns u&#x0364;berdem<lb/>
auch bewußt wa&#x0364;ren, es gerne zu thun, ein Gebot daru&#x0364;-<lb/>
ber ganz unno&#x0364;thig, und, thun wir es zwar, aber eben<lb/>
nicht gerne, &#x017F;ondern nur aus Achtung fu&#x0364;rs Ge&#x017F;etz, ein<lb/>
Gebot, welches die&#x017F;e Achtung eben zur Triebfeder der<lb/>
Maxime macht, gerade der gebotenen Ge&#x017F;innung zuwi-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_5_2" prev="#seg2pn_5_1" place="foot" n="*)">wollen, einen &#x017F;elt&#x017F;amen Contra&#x017F;t: Die&#x017F;es wu&#x0364;rde &#x017F;o lauten:<lb/>
Liebe dich &#x017F;elb&#x017F;t u&#x0364;ber alles, <hi rendition="#fr">Gott aber und deinen Na&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten um</hi> dein &#x017F;elb&#x017F;t willen.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0156] I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern es fodert doch, als Gebot, Achtung fuͤr ein Geſetz, das Liebe befiehlt, und uͤberlaͤßt es nicht der beliebigen Wahl, ſich dieſe zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologiſche Liebe) iſt unmoͤglich; denn er iſt kein Gegenſtand der Sinne. Eben dieſelbe gegen Menſchen iſt zwar moͤglich, kann aber nicht geboten werden; denn es ſteht in keines Menſchen Vermoͤgen, jemanden blos auf Befehl zu lieben. Alſo iſt es blos die practiſche Liebe, die in jenem Kern aller Geſetze verſtanden wird. Gott lieben, heißt in dieſer Bedeu- tung, ſeine Gebote gerne thun; den Naͤchſten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausuͤben. Das Ge- bot aber, das dieſes zur Regel macht, kann auch nicht dieſe Geſinnung in pflichtmaͤßigen Handlungen zu ha- ben, ſondern blos darnach zu ſtreben gebieten. Denn ein Gebot, daß man etwas gerne thun ſoll, iſt in ſich widerſprechend, weil, wenn wir, was uns zu thun ob- liege, ſchon von ſelbſt wiſſen, wenn wir uns uͤberdem auch bewußt waͤren, es gerne zu thun, ein Gebot daruͤ- ber ganz unnoͤthig, und, thun wir es zwar, aber eben nicht gerne, ſondern nur aus Achtung fuͤrs Geſetz, ein Gebot, welches dieſe Achtung eben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade der gebotenen Geſinnung zuwi- der *) *) wollen, einen ſeltſamen Contraſt: Dieſes wuͤrde ſo lauten: Liebe dich ſelbſt uͤber alles, Gott aber und deinen Naͤch- ſten um dein ſelbſt willen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/156
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/156>, abgerufen am 29.04.2024.