Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

sein Verhältniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit,
in Ansehung deren dasselbe grösser ist als alle Zahl, ge-
dacht. Nachdem die Einheit nun grösser oder kleiner an-
genommen wird, würde das Unendliche grösser oder klei-
ner seyn, allein die Unendlichkeit, da sie blos in dem Ver-
hältnisse zu dieser gegebenen Einheit besteht, würde immer
dieselbe bleiben, obgleich freilich die absolute Grösse des
Ganzen dadurch gar nicht erkant würde, davon auch hier
nicht die Rede ist.

Der wahre (transscendentale) Begriff der Unendlich-
keit ist: daß die successive Synthesis der Einheit in Durchmes-
sung eines Quantum niemals vollendet seyn kan*). Hier-
aus folgt ganz sicher: daß eine Ewigkeit wirklicher auf ein-
ander folgenden Zustände bis zu einem gegebenen (dem ge-
genwärtigen) Zeitpuncte nicht verflossen seyn kan, die
Welt also einen Anfang haben müsse.

In Ansehung des zweiten Theils der Thesis fällt die Schwie-
rigkeit, von einer unendlichen und doch abgelaufenen Reihe,
zwar weg; denn das Mannigfaltige einer der Ausdehnung
nach, unendlichen Welt ist zugleich gegeben. Allein, um
die Totalität einer solchen Menge zu denken, da wir uns
nicht auf Gränzen berufen können, welche diese Totalität
von selbst in der Anschauung ausmachen, müssen wir von
unserem Begriffe Rechenschaft geben, der in solchem Falle
nicht vom Ganzen zu der bestimten Menge der Theile gehen
kan, sondern die Möglichkeit eines Ganzen durch die suc-
cessive Synthesis der Theile darthun muß. Da diese
Synthesis nun eine nie zu vollendende Reihe ausmachen
müßte: so kan man sich nicht vor ihr, und mithin auch
nicht durch sie, eine Totalität denken. Denn der Begriff
der Totalität selbst ist in diesem Falle die Vorstellung einer
vollendeten Synthesis der Theile, und diese Vollendung,
mithin auch der Begriff derselben ist unmöglich.

Der
*) Dieses enthält dadurch eine Menge (von gegebener Ein-
heit) die grösser ist als alle Zahl, welches der mathema-
tische Begriff des Unendlichen ist.

ſein Verhaͤltniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit,
in Anſehung deren daſſelbe groͤſſer iſt als alle Zahl, ge-
dacht. Nachdem die Einheit nun groͤſſer oder kleiner an-
genommen wird, wuͤrde das Unendliche groͤſſer oder klei-
ner ſeyn, allein die Unendlichkeit, da ſie blos in dem Ver-
haͤltniſſe zu dieſer gegebenen Einheit beſteht, wuͤrde immer
dieſelbe bleiben, obgleich freilich die abſolute Groͤſſe des
Ganzen dadurch gar nicht erkant wuͤrde, davon auch hier
nicht die Rede iſt.

Der wahre (transſcendentale) Begriff der Unendlich-
keit iſt: daß die ſucceſſive Syntheſis der Einheit in Durchmeſ-
ſung eines Quantum niemals vollendet ſeyn kan*). Hier-
aus folgt ganz ſicher: daß eine Ewigkeit wirklicher auf ein-
ander folgenden Zuſtaͤnde bis zu einem gegebenen (dem ge-
genwaͤrtigen) Zeitpuncte nicht verfloſſen ſeyn kan, die
Welt alſo einen Anfang haben muͤſſe.

In Anſehung des zweiten Theils der Theſis faͤllt die Schwie-
rigkeit, von einer unendlichen und doch abgelaufenen Reihe,
zwar weg; denn das Mannigfaltige einer der Ausdehnung
nach, unendlichen Welt iſt zugleich gegeben. Allein, um
die Totalitaͤt einer ſolchen Menge zu denken, da wir uns
nicht auf Graͤnzen berufen koͤnnen, welche dieſe Totalitaͤt
von ſelbſt in der Anſchauung ausmachen, muͤſſen wir von
unſerem Begriffe Rechenſchaft geben, der in ſolchem Falle
nicht vom Ganzen zu der beſtimten Menge der Theile gehen
kan, ſondern die Moͤglichkeit eines Ganzen durch die ſuc-
ceſſive Syntheſis der Theile darthun muß. Da dieſe
Syntheſis nun eine nie zu vollendende Reihe ausmachen
muͤßte: ſo kan man ſich nicht vor ihr, und mithin auch
nicht durch ſie, eine Totalitaͤt denken. Denn der Begriff
der Totalitaͤt ſelbſt iſt in dieſem Falle die Vorſtellung einer
vollendeten Syntheſis der Theile, und dieſe Vollendung,
mithin auch der Begriff derſelben iſt unmoͤglich.

Der
*) Dieſes enthaͤlt dadurch eine Menge (von gegebener Ein-
heit) die groͤſſer iſt als alle Zahl, welches der mathema-
tiſche Begriff des Unendlichen iſt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <pb facs="#f0462" n="[432]"/>
                    <div next="#f0464" xml:id="f0462" prev="#f0460" n="8">
                      <div n="9">
                        <div n="10">
                          <p prev="#f0460p">&#x017F;ein Verha&#x0364;ltniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit,<lb/>
in An&#x017F;ehung deren da&#x017F;&#x017F;elbe gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t als alle Zahl, ge-<lb/>
dacht. Nachdem die Einheit nun gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er oder kleiner an-<lb/>
genommen wird, wu&#x0364;rde das Unendliche gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er oder klei-<lb/>
ner &#x017F;eyn, allein die Unendlichkeit, da &#x017F;ie blos in dem Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e zu die&#x017F;er gegebenen Einheit be&#x017F;teht, wu&#x0364;rde immer<lb/>
die&#x017F;elbe bleiben, obgleich freilich die ab&#x017F;olute Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e des<lb/>
Ganzen dadurch gar nicht erkant wu&#x0364;rde, davon auch hier<lb/>
nicht die Rede i&#x017F;t.</p><lb/>
                          <p>Der wahre (trans&#x017F;cendentale) Begriff der Unendlich-<lb/>
keit i&#x017F;t: daß die &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;ive Synthe&#x017F;is der Einheit in Durchme&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung eines Quantum niemals vollendet &#x017F;eyn kan<note xml:id="seg2pn_10_1" next="#seg2pn_10_2" place="foot" n="*)">Die&#x017F;es entha&#x0364;lt dadurch eine Menge (von gegebener Ein-<lb/>
heit) die gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t als alle Zahl, welches der mathema-<lb/>
ti&#x017F;che Begriff des Unendlichen i&#x017F;t.</note>. Hier-<lb/>
aus folgt ganz &#x017F;icher: daß eine Ewigkeit wirklicher auf ein-<lb/>
ander folgenden Zu&#x017F;ta&#x0364;nde bis zu einem gegebenen (dem ge-<lb/>
genwa&#x0364;rtigen) Zeitpuncte nicht verflo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn kan, die<lb/>
Welt al&#x017F;o einen Anfang haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
                          <p>In An&#x017F;ehung des zweiten Theils der The&#x017F;is fa&#x0364;llt die Schwie-<lb/>
rigkeit, von einer unendlichen und doch abgelaufenen Reihe,<lb/>
zwar weg; denn das Mannigfaltige einer der Ausdehnung<lb/>
nach, unendlichen Welt i&#x017F;t zugleich gegeben. Allein, um<lb/>
die Totalita&#x0364;t einer &#x017F;olchen Menge zu denken, da wir uns<lb/>
nicht auf Gra&#x0364;nzen berufen ko&#x0364;nnen, welche die&#x017F;e Totalita&#x0364;t<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t in der An&#x017F;chauung ausmachen, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir von<lb/>
un&#x017F;erem Begriffe Rechen&#x017F;chaft geben, der in &#x017F;olchem Falle<lb/>
nicht vom Ganzen zu der be&#x017F;timten Menge der Theile gehen<lb/>
kan, &#x017F;ondern die Mo&#x0364;glichkeit eines Ganzen durch die &#x017F;uc-<lb/>
ce&#x017F;&#x017F;ive Synthe&#x017F;is der Theile darthun muß. Da die&#x017F;e<lb/>
Synthe&#x017F;is nun eine nie zu vollendende Reihe ausmachen<lb/>
mu&#x0364;ßte: &#x017F;o kan man &#x017F;ich nicht vor ihr, und mithin auch<lb/>
nicht durch &#x017F;ie, eine Totalita&#x0364;t denken. Denn der Begriff<lb/>
der Totalita&#x0364;t &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t in die&#x017F;em Falle die Vor&#x017F;tellung einer<lb/>
vollendeten Synthe&#x017F;is der Theile, und die&#x017F;e Vollendung,<lb/>
mithin auch der Begriff der&#x017F;elben i&#x017F;t unmo&#x0364;glich.</p>
                        </div>
                      </div>
                    </div><lb/>
                    <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[432]/0462] ſein Verhaͤltniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit, in Anſehung deren daſſelbe groͤſſer iſt als alle Zahl, ge- dacht. Nachdem die Einheit nun groͤſſer oder kleiner an- genommen wird, wuͤrde das Unendliche groͤſſer oder klei- ner ſeyn, allein die Unendlichkeit, da ſie blos in dem Ver- haͤltniſſe zu dieſer gegebenen Einheit beſteht, wuͤrde immer dieſelbe bleiben, obgleich freilich die abſolute Groͤſſe des Ganzen dadurch gar nicht erkant wuͤrde, davon auch hier nicht die Rede iſt. Der wahre (transſcendentale) Begriff der Unendlich- keit iſt: daß die ſucceſſive Syntheſis der Einheit in Durchmeſ- ſung eines Quantum niemals vollendet ſeyn kan *). Hier- aus folgt ganz ſicher: daß eine Ewigkeit wirklicher auf ein- ander folgenden Zuſtaͤnde bis zu einem gegebenen (dem ge- genwaͤrtigen) Zeitpuncte nicht verfloſſen ſeyn kan, die Welt alſo einen Anfang haben muͤſſe. In Anſehung des zweiten Theils der Theſis faͤllt die Schwie- rigkeit, von einer unendlichen und doch abgelaufenen Reihe, zwar weg; denn das Mannigfaltige einer der Ausdehnung nach, unendlichen Welt iſt zugleich gegeben. Allein, um die Totalitaͤt einer ſolchen Menge zu denken, da wir uns nicht auf Graͤnzen berufen koͤnnen, welche dieſe Totalitaͤt von ſelbſt in der Anſchauung ausmachen, muͤſſen wir von unſerem Begriffe Rechenſchaft geben, der in ſolchem Falle nicht vom Ganzen zu der beſtimten Menge der Theile gehen kan, ſondern die Moͤglichkeit eines Ganzen durch die ſuc- ceſſive Syntheſis der Theile darthun muß. Da dieſe Syntheſis nun eine nie zu vollendende Reihe ausmachen muͤßte: ſo kan man ſich nicht vor ihr, und mithin auch nicht durch ſie, eine Totalitaͤt denken. Denn der Begriff der Totalitaͤt ſelbſt iſt in dieſem Falle die Vorſtellung einer vollendeten Syntheſis der Theile, und dieſe Vollendung, mithin auch der Begriff derſelben iſt unmoͤglich. Der *) Dieſes enthaͤlt dadurch eine Menge (von gegebener Ein- heit) die groͤſſer iſt als alle Zahl, welches der mathema- tiſche Begriff des Unendlichen iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/462
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. [432]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/462>, abgerufen am 28.04.2024.