Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

VIII. Absch. Regulatives Princip d. r. Vernunft etc.
(Philosophen) wollen an dessen statt nur den Ausdruck von
einem progressus in indefinitum geltenlassen. Ohne mich
bey der Prüfung der Bedenklichkeit, die diesen eine solche
Unterscheidung angerathen hat, und dem guten oder
fruchtlosen Gebrauch derselben aufzuhalten, will ich diese
Begriffe in Beziehung auf meine Absicht genau zu be-
stimmen suchen.

Von einer geraden Linie kan man mit Recht sagen, sie
könne ins Unendliche verlängert werden, und hier würde
die Unterscheidung des Unendlichen und des unbestimbar
weiten Fortgangs (progressus in indefinitum) eine leere
Subtilität seyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet
eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin-
zu sezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum;
weil das erstere nicht mehr bedeutet als: verlängert sie,
so weit ihr wollet, das zweite aber: ihr sollt niemals
aufhören sie zu verlängern (welches hiebey eben nicht die
Absicht ist), so ist doch, wenn nur vom können die Rede
ist, der erstere Ausdruck ganz richtig; denn ihr könt sie
ins Unendliche immer grösser machen. Und so verhält es
sich auch in allen Fällen, wo man nur vom Progressus,
d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten,
spricht; dieser mögliche Fortgang geht in der Reihe der
Erscheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar
könt ihr in absteigender Linie der Zeugung ohne Ende fort-
gehen und euch auch ganz wol denken, daß sie wirklich

in

VIII. Abſch. Regulatives Princip d. r. Vernunft ꝛc.
(Philoſophen) wollen an deſſen ſtatt nur den Ausdruck von
einem progreſſus in indefinitum geltenlaſſen. Ohne mich
bey der Pruͤfung der Bedenklichkeit, die dieſen eine ſolche
Unterſcheidung angerathen hat, und dem guten oder
fruchtloſen Gebrauch derſelben aufzuhalten, will ich dieſe
Begriffe in Beziehung auf meine Abſicht genau zu be-
ſtimmen ſuchen.

Von einer geraden Linie kan man mit Recht ſagen, ſie
koͤnne ins Unendliche verlaͤngert werden, und hier wuͤrde
die Unterſcheidung des Unendlichen und des unbeſtimbar
weiten Fortgangs (progreſſus in indefinitum) eine leere
Subtilitaͤt ſeyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet
eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin-
zu ſezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum;
weil das erſtere nicht mehr bedeutet als: verlaͤngert ſie,
ſo weit ihr wollet, das zweite aber: ihr ſollt niemals
aufhoͤren ſie zu verlaͤngern (welches hiebey eben nicht die
Abſicht iſt), ſo iſt doch, wenn nur vom koͤnnen die Rede
iſt, der erſtere Ausdruck ganz richtig; denn ihr koͤnt ſie
ins Unendliche immer groͤſſer machen. Und ſo verhaͤlt es
ſich auch in allen Faͤllen, wo man nur vom Progreſſus,
d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten,
ſpricht; dieſer moͤgliche Fortgang geht in der Reihe der
Erſcheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar
koͤnt ihr in abſteigender Linie der Zeugung ohne Ende fort-
gehen und euch auch ganz wol denken, daß ſie wirklich

in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0541" n="511"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Ab&#x017F;ch. Regulatives Princip d. r. Vernunft &#xA75B;c.</fw><lb/>
(Philo&#x017F;ophen) wollen an de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;tatt nur den Ausdruck von<lb/>
einem <hi rendition="#aq">progre&#x017F;&#x017F;us in indefinitum</hi> geltenla&#x017F;&#x017F;en. Ohne mich<lb/>
bey der Pru&#x0364;fung der Bedenklichkeit, die die&#x017F;en eine &#x017F;olche<lb/>
Unter&#x017F;cheidung angerathen hat, und dem guten oder<lb/>
fruchtlo&#x017F;en Gebrauch der&#x017F;elben aufzuhalten, will ich die&#x017F;e<lb/>
Begriffe in Beziehung auf meine Ab&#x017F;icht genau zu be-<lb/>
&#x017F;timmen &#x017F;uchen.</p><lb/>
                      <p>Von einer geraden Linie kan man mit Recht &#x017F;agen, &#x017F;ie<lb/>
ko&#x0364;nne ins Unendliche verla&#x0364;ngert werden, und hier wu&#x0364;rde<lb/>
die Unter&#x017F;cheidung des Unendlichen und des unbe&#x017F;timbar<lb/>
weiten Fortgangs (<hi rendition="#aq">progre&#x017F;&#x017F;us in indefinitum</hi>) eine leere<lb/>
Subtilita&#x0364;t &#x017F;eyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet<lb/>
eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin-<lb/>
zu &#x017F;ezt, <hi rendition="#aq">in indefinitum</hi>, als wenn es heißt, <hi rendition="#aq">in infinitum;</hi><lb/>
weil das er&#x017F;tere nicht mehr bedeutet als: verla&#x0364;ngert &#x017F;ie,<lb/>
&#x017F;o weit ihr wollet, das zweite aber: ihr &#x017F;ollt niemals<lb/>
aufho&#x0364;ren &#x017F;ie zu verla&#x0364;ngern (welches hiebey eben nicht die<lb/>
Ab&#x017F;icht i&#x017F;t), &#x017F;o i&#x017F;t doch, wenn nur vom ko&#x0364;nnen die Rede<lb/>
i&#x017F;t, der er&#x017F;tere Ausdruck ganz richtig; denn ihr ko&#x0364;nt &#x017F;ie<lb/>
ins Unendliche immer gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er machen. Und &#x017F;o verha&#x0364;lt es<lb/>
&#x017F;ich auch in allen Fa&#x0364;llen, wo man nur vom Progre&#x017F;&#x017F;us,<lb/>
d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten,<lb/>
&#x017F;pricht; die&#x017F;er mo&#x0364;gliche Fortgang geht in der Reihe der<lb/>
Er&#x017F;cheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar<lb/>
ko&#x0364;nt ihr in ab&#x017F;teigender Linie der Zeugung ohne Ende fort-<lb/>
gehen und euch auch ganz wol denken, daß &#x017F;ie wirklich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[511/0541] VIII. Abſch. Regulatives Princip d. r. Vernunft ꝛc. (Philoſophen) wollen an deſſen ſtatt nur den Ausdruck von einem progreſſus in indefinitum geltenlaſſen. Ohne mich bey der Pruͤfung der Bedenklichkeit, die dieſen eine ſolche Unterſcheidung angerathen hat, und dem guten oder fruchtloſen Gebrauch derſelben aufzuhalten, will ich dieſe Begriffe in Beziehung auf meine Abſicht genau zu be- ſtimmen ſuchen. Von einer geraden Linie kan man mit Recht ſagen, ſie koͤnne ins Unendliche verlaͤngert werden, und hier wuͤrde die Unterſcheidung des Unendlichen und des unbeſtimbar weiten Fortgangs (progreſſus in indefinitum) eine leere Subtilitaͤt ſeyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin- zu ſezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum; weil das erſtere nicht mehr bedeutet als: verlaͤngert ſie, ſo weit ihr wollet, das zweite aber: ihr ſollt niemals aufhoͤren ſie zu verlaͤngern (welches hiebey eben nicht die Abſicht iſt), ſo iſt doch, wenn nur vom koͤnnen die Rede iſt, der erſtere Ausdruck ganz richtig; denn ihr koͤnt ſie ins Unendliche immer groͤſſer machen. Und ſo verhaͤlt es ſich auch in allen Faͤllen, wo man nur vom Progreſſus, d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten, ſpricht; dieſer moͤgliche Fortgang geht in der Reihe der Erſcheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar koͤnt ihr in abſteigender Linie der Zeugung ohne Ende fort- gehen und euch auch ganz wol denken, daß ſie wirklich in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/541
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/541>, abgerufen am 10.06.2024.