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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
Viele Vögel (der Papagey, der Colibrit, die Paradies-
vögel), eine Menge Schaalthiere des Meeres, sind für
sich Schönheiten, die gar keinem nach Begriffen in An-
sehung seines Zwecks bestimmten Gegenstande zukommen,
sondern frey und für sich gefallen. So bedeuten die Zeich-
nungen a la grec, das Laubwerk zu Einfassungen, oder
auf Papiertapeten u. s. w. für sich nichts: sie stellen nichts
vor, kein Object unter einem bestimmten Begriffe und
sind freye Schönheiten. Man kann auch das, was man
in der Musik Phantasien (ohne Thema) nennt, ja die
ganze Musik ohne Text zu derselben Art zählen.

Jn der Beurtheilung einer freyen Schönheit (der
bloßen Form nach) ist das Geschmacksurtheil rein. Es
ist kein Begrif von irgend einem Zwecke, wozu das Man-
nigfaltige dem gegebenen Objecte dienen und was dieses
also vorstellen solle, vorausgesetzt, daß dadurch die Frey-
heit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der Ge-
stalt gleichsam spielt, nur eingeschränkt werden würde.

Allein die Schönheit eines Menschen (und unter
dieser Art die eines Mannes, oder Weibes, oder Kindes)
die eines Pferdes, eines Gebäudes (als Kirche, Pallast,
Arsenal, oder Gartenhaus) setzt einen Begrif vom Zwecke
voraus, der bestimmt was das Ding seyn soll, mithin
einen Begrif seiner Vollkommenheit und ist also blos ad-
härirende Schönheit. So wie nun die Verbindung des
Angenehmen (der Empfindung) mit der Schönheit, die
eigentlich nur die Form betrift, die Reinigkeit des Ge-

Kants Crit. d. Urtheilskr. D

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Viele Voͤgel (der Papagey, der Colibrit, die Paradies-
voͤgel), eine Menge Schaalthiere des Meeres, ſind fuͤr
ſich Schoͤnheiten, die gar keinem nach Begriffen in An-
ſehung ſeines Zwecks beſtimmten Gegenſtande zukommen,
ſondern frey und fuͤr ſich gefallen. So bedeuten die Zeich-
nungen a la grec, das Laubwerk zu Einfaſſungen, oder
auf Papiertapeten u. ſ. w. fuͤr ſich nichts: ſie ſtellen nichts
vor, kein Object unter einem beſtimmten Begriffe und
ſind freye Schoͤnheiten. Man kann auch das, was man
in der Muſik Phantaſien (ohne Thema) nennt, ja die
ganze Muſik ohne Text zu derſelben Art zaͤhlen.

Jn der Beurtheilung einer freyen Schoͤnheit (der
bloßen Form nach) iſt das Geſchmacksurtheil rein. Es
iſt kein Begrif von irgend einem Zwecke, wozu das Man-
nigfaltige dem gegebenen Objecte dienen und was dieſes
alſo vorſtellen ſolle, vorausgeſetzt, daß dadurch die Frey-
heit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der Ge-
ſtalt gleichſam ſpielt, nur eingeſchraͤnkt werden wuͤrde.

Allein die Schoͤnheit eines Menſchen (und unter
dieſer Art die eines Mannes, oder Weibes, oder Kindes)
die eines Pferdes, eines Gebaͤudes (als Kirche, Pallaſt,
Arſenal, oder Gartenhaus) ſetzt einen Begrif vom Zwecke
voraus, der beſtimmt was das Ding ſeyn ſoll, mithin
einen Begrif ſeiner Vollkommenheit und iſt alſo blos ad-
haͤrirende Schoͤnheit. So wie nun die Verbindung des
Angenehmen (der Empfindung) mit der Schoͤnheit, die
eigentlich nur die Form betrift, die Reinigkeit des Ge-

Kants Crit. d. Urtheilskr. D
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[49/0113] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Viele Voͤgel (der Papagey, der Colibrit, die Paradies- voͤgel), eine Menge Schaalthiere des Meeres, ſind fuͤr ſich Schoͤnheiten, die gar keinem nach Begriffen in An- ſehung ſeines Zwecks beſtimmten Gegenſtande zukommen, ſondern frey und fuͤr ſich gefallen. So bedeuten die Zeich- nungen a la grec, das Laubwerk zu Einfaſſungen, oder auf Papiertapeten u. ſ. w. fuͤr ſich nichts: ſie ſtellen nichts vor, kein Object unter einem beſtimmten Begriffe und ſind freye Schoͤnheiten. Man kann auch das, was man in der Muſik Phantaſien (ohne Thema) nennt, ja die ganze Muſik ohne Text zu derſelben Art zaͤhlen. Jn der Beurtheilung einer freyen Schoͤnheit (der bloßen Form nach) iſt das Geſchmacksurtheil rein. Es iſt kein Begrif von irgend einem Zwecke, wozu das Man- nigfaltige dem gegebenen Objecte dienen und was dieſes alſo vorſtellen ſolle, vorausgeſetzt, daß dadurch die Frey- heit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der Ge- ſtalt gleichſam ſpielt, nur eingeſchraͤnkt werden wuͤrde. Allein die Schoͤnheit eines Menſchen (und unter dieſer Art die eines Mannes, oder Weibes, oder Kindes) die eines Pferdes, eines Gebaͤudes (als Kirche, Pallaſt, Arſenal, oder Gartenhaus) ſetzt einen Begrif vom Zwecke voraus, der beſtimmt was das Ding ſeyn ſoll, mithin einen Begrif ſeiner Vollkommenheit und iſt alſo blos ad- haͤrirende Schoͤnheit. So wie nun die Verbindung des Angenehmen (der Empfindung) mit der Schoͤnheit, die eigentlich nur die Form betrift, die Reinigkeit des Ge- Kants Crit. d. Urtheilskr. D

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/113>, abgerufen am 28.04.2024.