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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
nes Naturells anfangen sollte, nicht in fehlerhafte Ver-
suche gerathen würde, wenn nicht andere mit den ihri-
gen ihm vorgegangen wären, nicht um die Nachfolgende
zu bloßen Nachahmern zu machen, sondern durch ihr
Verfahren andere auf die Spuhr zu bringen, um die
Principien in sich selbst zu suchen und so ihren eigenen,
oft besseren, Gang zu nehmen. Selbst in der Religion,
wo gewis ein jeder die Regel seines Verhaltens aus sich
selbst hernehmen muß, weil er dafür auch selbst verant-
wortlich bleibt und die Schuld seiner Vergehungen nicht
auf andre, als Lehrer oder Vorgänger, schieben kann,
wird doch nie durch allgemeine Vorschriften, die man
entweder von Priestern oder Philosophen bekommen,
oder auch aus sich selbst genommen, so viel ausgerichtet
werden, als durch ein Beyspiel der Tugend oder Heilig-
keit, welches, in der Geschichte aufgestellt, die Auto-
nomie der Tugend, aus der eigenen und ursprüngli-
chen Jdee der Sittlichkeit (a priori), nicht entbehrlich
macht, oder diese in einem Mechanism der Nachahmung
verwandelt. Nachfolge, die sich auf einen Vorgang
bezieht, nicht Nachahmung, ist der rechte Ausdruck für
allen Einflus, den Producte eines exemplarischen Urhe-
bers auf Andere haben können; welches nur so viel be-
deutet, als: aus denselben Quellen schöpfen, daraus
jener selbst schöpfte und seinen Vorgängern nur die Art,
wie sie sich dabey benehmen, abzulernen. Aber unter
allen Vermögen und Talenten ist der Geschmack gerade

J 5

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
nes Naturells anfangen ſollte, nicht in fehlerhafte Ver-
ſuche gerathen wuͤrde, wenn nicht andere mit den ihri-
gen ihm vorgegangen waͤren, nicht um die Nachfolgende
zu bloßen Nachahmern zu machen, ſondern durch ihr
Verfahren andere auf die Spuhr zu bringen, um die
Principien in ſich ſelbſt zu ſuchen und ſo ihren eigenen,
oft beſſeren, Gang zu nehmen. Selbſt in der Religion,
wo gewis ein jeder die Regel ſeines Verhaltens aus ſich
ſelbſt hernehmen muß, weil er dafuͤr auch ſelbſt verant-
wortlich bleibt und die Schuld ſeiner Vergehungen nicht
auf andre, als Lehrer oder Vorgaͤnger, ſchieben kann,
wird doch nie durch allgemeine Vorſchriften, die man
entweder von Prieſtern oder Philoſophen bekommen,
oder auch aus ſich ſelbſt genommen, ſo viel ausgerichtet
werden, als durch ein Beyſpiel der Tugend oder Heilig-
keit, welches, in der Geſchichte aufgeſtellt, die Auto-
nomie der Tugend, aus der eigenen und urſpruͤngli-
chen Jdee der Sittlichkeit (a priori), nicht entbehrlich
macht, oder dieſe in einem Mechanism der Nachahmung
verwandelt. Nachfolge, die ſich auf einen Vorgang
bezieht, nicht Nachahmung, iſt der rechte Ausdruck fuͤr
allen Einflus, den Producte eines exemplariſchen Urhe-
bers auf Andere haben koͤnnen; welches nur ſo viel be-
deutet, als: aus denſelben Quellen ſchoͤpfen, daraus
jener ſelbſt ſchoͤpfte und ſeinen Vorgaͤngern nur die Art,
wie ſie ſich dabey benehmen, abzulernen. Aber unter
allen Vermoͤgen und Talenten iſt der Geſchmack gerade

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[137/0201] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. nes Naturells anfangen ſollte, nicht in fehlerhafte Ver- ſuche gerathen wuͤrde, wenn nicht andere mit den ihri- gen ihm vorgegangen waͤren, nicht um die Nachfolgende zu bloßen Nachahmern zu machen, ſondern durch ihr Verfahren andere auf die Spuhr zu bringen, um die Principien in ſich ſelbſt zu ſuchen und ſo ihren eigenen, oft beſſeren, Gang zu nehmen. Selbſt in der Religion, wo gewis ein jeder die Regel ſeines Verhaltens aus ſich ſelbſt hernehmen muß, weil er dafuͤr auch ſelbſt verant- wortlich bleibt und die Schuld ſeiner Vergehungen nicht auf andre, als Lehrer oder Vorgaͤnger, ſchieben kann, wird doch nie durch allgemeine Vorſchriften, die man entweder von Prieſtern oder Philoſophen bekommen, oder auch aus ſich ſelbſt genommen, ſo viel ausgerichtet werden, als durch ein Beyſpiel der Tugend oder Heilig- keit, welches, in der Geſchichte aufgeſtellt, die Auto- nomie der Tugend, aus der eigenen und urſpruͤngli- chen Jdee der Sittlichkeit (a priori), nicht entbehrlich macht, oder dieſe in einem Mechanism der Nachahmung verwandelt. Nachfolge, die ſich auf einen Vorgang bezieht, nicht Nachahmung, iſt der rechte Ausdruck fuͤr allen Einflus, den Producte eines exemplariſchen Urhe- bers auf Andere haben koͤnnen; welches nur ſo viel be- deutet, als: aus denſelben Quellen ſchoͤpfen, daraus jener ſelbſt ſchoͤpfte und ſeinen Vorgaͤngern nur die Art, wie ſie ſich dabey benehmen, abzulernen. Aber unter allen Vermoͤgen und Talenten iſt der Geſchmack gerade J 5

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/201>, abgerufen am 30.04.2024.