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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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II. Th. Critik der teleologischen Urtheilskraft.
Verhältnisse der Menschen untereinander, da dem Ab-
bruche der einander wechselseitigen widerstreitenden
Freyheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches
bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird;
denn nur in ihr kann die größte Entwickelung der Na-
turanlagen geschehen, zu welcher aber doch, wenn gleich
Menschen sie auszufinden klug und sich ihrem Zwange
willig zu unterwerfen weise genug wären, noch ein
Weltbürgerliches Ganze, d. i. ein System aller
Staaten, die auf einander nachtheilig zu wirken in Ge-
fahr sind, erforderlich wäre, in Ermangelung dessen und
bey dem Hindernis, welches Ehrsucht, Herrschsucht und
Habsucht, vornemlich an denen die Gewalt in Händen
haben, selbst der Möglichkeit eines solchen Entwurfs ent-
gegensetzen, der Krieg (theils in welchem sich Staaten
zerspalten und in kleinere auflösen, theils ein Staat
andere Kleinere mit sich vereinigt und ein größeres Ganze
zu bilden strebt) unvermeidlich ist, der so, wie er ein un-
absichtlicher (durch zügellose Leidens[c]aften angeregter)
Versuch der Menschen, doch tief verborgener absichtlicher
der obersten Weisheit ist, Gesetzmäßigkeit mit der Frey-
heit der Staaten und dadurch Einheit eines moralisch
begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, den-
noch vorzubereiten, unerachtet der schrecklichsten Drang-
saale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, und
der vielleicht noch größern, womit die beständige Be-
reitschaft dazu im Frieden drückt, dennoch eine Trieb-

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II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
Verhaͤltniſſe der Menſchen untereinander, da dem Ab-
bruche der einander wechſelſeitigen widerſtreitenden
Freyheit geſetzmaͤßige Gewalt in einem Ganzen, welches
buͤrgerliche Geſellſchaft heißt, entgegengeſetzt wird;
denn nur in ihr kann die groͤßte Entwickelung der Na-
turanlagen geſchehen, zu welcher aber doch, wenn gleich
Menſchen ſie auszufinden klug und ſich ihrem Zwange
willig zu unterwerfen weiſe genug waͤren, noch ein
Weltbuͤrgerliches Ganze, d. i. ein Syſtem aller
Staaten, die auf einander nachtheilig zu wirken in Ge-
fahr ſind, erforderlich waͤre, in Ermangelung deſſen und
bey dem Hindernis, welches Ehrſucht, Herrſchſucht und
Habſucht, vornemlich an denen die Gewalt in Haͤnden
haben, ſelbſt der Moͤglichkeit eines ſolchen Entwurfs ent-
gegenſetzen, der Krieg (theils in welchem ſich Staaten
zerſpalten und in kleinere aufloͤſen, theils ein Staat
andere Kleinere mit ſich vereinigt und ein groͤßeres Ganze
zu bilden ſtrebt) unvermeidlich iſt, der ſo, wie er ein un-
abſichtlicher (durch zuͤgelloſe Leidenſ[c]aften angeregter)
Verſuch der Menſchen, doch tief verborgener abſichtlicher
der oberſten Weisheit iſt, Geſetzmaͤßigkeit mit der Frey-
heit der Staaten und dadurch Einheit eines moraliſch
begruͤndeten Syſtems derſelben, wo nicht zu ſtiften, den-
noch vorzubereiten, unerachtet der ſchrecklichſten Drang-
ſaale, womit er das menſchliche Geſchlecht belegt, und
der vielleicht noch groͤßern, womit die beſtaͤndige Be-
reitſchaft dazu im Frieden druͤckt, dennoch eine Trieb-

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[389/0453] II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft. Verhaͤltniſſe der Menſchen untereinander, da dem Ab- bruche der einander wechſelſeitigen widerſtreitenden Freyheit geſetzmaͤßige Gewalt in einem Ganzen, welches buͤrgerliche Geſellſchaft heißt, entgegengeſetzt wird; denn nur in ihr kann die groͤßte Entwickelung der Na- turanlagen geſchehen, zu welcher aber doch, wenn gleich Menſchen ſie auszufinden klug und ſich ihrem Zwange willig zu unterwerfen weiſe genug waͤren, noch ein Weltbuͤrgerliches Ganze, d. i. ein Syſtem aller Staaten, die auf einander nachtheilig zu wirken in Ge- fahr ſind, erforderlich waͤre, in Ermangelung deſſen und bey dem Hindernis, welches Ehrſucht, Herrſchſucht und Habſucht, vornemlich an denen die Gewalt in Haͤnden haben, ſelbſt der Moͤglichkeit eines ſolchen Entwurfs ent- gegenſetzen, der Krieg (theils in welchem ſich Staaten zerſpalten und in kleinere aufloͤſen, theils ein Staat andere Kleinere mit ſich vereinigt und ein groͤßeres Ganze zu bilden ſtrebt) unvermeidlich iſt, der ſo, wie er ein un- abſichtlicher (durch zuͤgelloſe Leidenſcaften angeregter) Verſuch der Menſchen, doch tief verborgener abſichtlicher der oberſten Weisheit iſt, Geſetzmaͤßigkeit mit der Frey- heit der Staaten und dadurch Einheit eines moraliſch begruͤndeten Syſtems derſelben, wo nicht zu ſtiften, den- noch vorzubereiten, unerachtet der ſchrecklichſten Drang- ſaale, womit er das menſchliche Geſchlecht belegt, und der vielleicht noch groͤßern, womit die beſtaͤndige Be- reitſchaft dazu im Frieden druͤckt, dennoch eine Trieb- B b 3

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/453>, abgerufen am 21.05.2024.