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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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II. Th. Critik der teleologischen Urtheilskraft.
können, zusammengehalten, und die Frage, ob etwas
ein erkennbares Wesen sey oder nicht, ist keine Frage,
die die Möglichkeit der Dinge selbst, sondern unserer Er-
kenntnis derselben angeht.

Erkennbare Dinge sind nun von dreyfacher
Art Sachen der Meynung (opinabile) Thatsa-
chen
(scibile) und Glaubenssachen (mere credi-
bile)
.

1) Gegenstände der bloßen Vernunftideen, die für
das theoretische Erkenntnis gar nicht in irgend einer mög-
lichen Erfahrung dargestellt werden können, sind so fern
auch gar nicht erkennbare Dinge, mithin kann man
in Ansehung ihrer nicht einmal meynen; wie denn a
priori
zu meynen schon an sich ungereimt und der gerade
Weg zu lauter Hirngespinstern ist. Entweder unser Satz
a priori ist also gewis, oder er enthält gar nichts zum
Fürwarhalten. Also sind Meynungssachen jederzeit
Objekte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungs-
erkenntnis (Gegenstände der Sinnenwelt), die aber, nach
dem bloßen Grade dieses Vermögens den wir besitzen,
für uns unmöglich ist. So ist der Aether der neuern
Physiker, eine elastische, alle andere Materien durchdrin-
gende (mit ihnen innigst vermischte) Flüßigkeit, eine
bloße Meynungssache, immer doch noch von der Art,
daß, wenn die äußern Sinne im höchsten Grade geschärft
wären, er wahrgenommen werden könnte; der aber nie
in irgend einer Beobachtung, oder Experimente, darge-

Kants Crit. d. Urtheilskr. F f

II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
koͤnnen, zuſammengehalten, und die Frage, ob etwas
ein erkennbares Weſen ſey oder nicht, iſt keine Frage,
die die Moͤglichkeit der Dinge ſelbſt, ſondern unſerer Er-
kenntnis derſelben angeht.

Erkennbare Dinge ſind nun von dreyfacher
Art Sachen der Meynung (opinabile) Thatſa-
chen
(ſcibile) und Glaubensſachen (mere credi-
bile)
.

1) Gegenſtaͤnde der bloßen Vernunftideen, die fuͤr
das theoretiſche Erkenntnis gar nicht in irgend einer moͤg-
lichen Erfahrung dargeſtellt werden koͤnnen, ſind ſo fern
auch gar nicht erkennbare Dinge, mithin kann man
in Anſehung ihrer nicht einmal meynen; wie denn a
priori
zu meynen ſchon an ſich ungereimt und der gerade
Weg zu lauter Hirngeſpinſtern iſt. Entweder unſer Satz
a priori iſt alſo gewis, oder er enthaͤlt gar nichts zum
Fuͤrwarhalten. Alſo ſind Meynungsſachen jederzeit
Objekte einer wenigſtens an ſich moͤglichen Erfahrungs-
erkenntnis (Gegenſtaͤnde der Sinnenwelt), die aber, nach
dem bloßen Grade dieſes Vermoͤgens den wir beſitzen,
fuͤr uns unmoͤglich iſt. So iſt der Aether der neuern
Phyſiker, eine elaſtiſche, alle andere Materien durchdrin-
gende (mit ihnen innigſt vermiſchte) Fluͤßigkeit, eine
bloße Meynungsſache, immer doch noch von der Art,
daß, wenn die aͤußern Sinne im hoͤchſten Grade geſchaͤrft
waͤren, er wahrgenommen werden koͤnnte; der aber nie
in irgend einer Beobachtung, oder Experimente, darge-

Kants Crit. d. Urtheilskr. F f
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[449/0513] II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft. koͤnnen, zuſammengehalten, und die Frage, ob etwas ein erkennbares Weſen ſey oder nicht, iſt keine Frage, die die Moͤglichkeit der Dinge ſelbſt, ſondern unſerer Er- kenntnis derſelben angeht. Erkennbare Dinge ſind nun von dreyfacher Art Sachen der Meynung (opinabile) Thatſa- chen (ſcibile) und Glaubensſachen (mere credi- bile). 1) Gegenſtaͤnde der bloßen Vernunftideen, die fuͤr das theoretiſche Erkenntnis gar nicht in irgend einer moͤg- lichen Erfahrung dargeſtellt werden koͤnnen, ſind ſo fern auch gar nicht erkennbare Dinge, mithin kann man in Anſehung ihrer nicht einmal meynen; wie denn a priori zu meynen ſchon an ſich ungereimt und der gerade Weg zu lauter Hirngeſpinſtern iſt. Entweder unſer Satz a priori iſt alſo gewis, oder er enthaͤlt gar nichts zum Fuͤrwarhalten. Alſo ſind Meynungsſachen jederzeit Objekte einer wenigſtens an ſich moͤglichen Erfahrungs- erkenntnis (Gegenſtaͤnde der Sinnenwelt), die aber, nach dem bloßen Grade dieſes Vermoͤgens den wir beſitzen, fuͤr uns unmoͤglich iſt. So iſt der Aether der neuern Phyſiker, eine elaſtiſche, alle andere Materien durchdrin- gende (mit ihnen innigſt vermiſchte) Fluͤßigkeit, eine bloße Meynungsſache, immer doch noch von der Art, daß, wenn die aͤußern Sinne im hoͤchſten Grade geſchaͤrft waͤren, er wahrgenommen werden koͤnnte; der aber nie in irgend einer Beobachtung, oder Experimente, darge- Kants Crit. d. Urtheilskr. F f

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/513>, abgerufen am 04.05.2024.