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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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und ging damit zu dem nächsten Thore hinaus, ohne
zu wissen, wohin? Ihre Schwiegermutter gab ihr
das Geleite drei Viertelmeilen weit. Diese schluchzte
und weinte neben ihr her, streckte oft ihre gefalteten
Hände vor sich aus und rief: "Ach, meine liebe
Schwiegertochter! daß Gott sich erbarme! du wirst
recht aus dem Hause gestoßen. Mein gottloser Sohn!
es wird ihm nicht wohl gehn; aber du wirst noch
Freude erleben. Es müßte kein Gott im Himmel seyn,
wenn du so verlassen bleiben solltest. Meine liebe Toch-
ter! es wird dir noch wohl gehn, denke an mich! es
muß dir noch wohl gehn, es muß dir noch wohl gehn
-- --" Der Abend fing an zu dämmern, und sie
mußten sich trennen. Es war ein herbes, bittres
Lebewohl, was sich beide sagten, und niemals sahen
sie einander wieder.

Jezt schlug sie ihre verweinten Augen auf, und
sahe sich nach einem Orte um, wo sie herbergen könn-
te. In einiger Ferne entdeckte sie die friedlichen Stroh-
dächer eines Dorfs, darauf eilte sie zu, und nahm
darin ihre Nachtruhe. Das Dörfchen gränzte zwischen
Schwiebus, wo ihr Mann, und zwischen Tirschtiegel,
wo ihre Mutter wohnte. Ihre von Kummer müde
Seele, welche nichts als den Tod zur Rettung aus ih-
rem Elende vor sich sah, sehnte sich nach der Mutter,
nach den Wohnungen ihrer Jugend, wo sie unter un-

und ging damit zu dem naͤchſten Thore hinaus, ohne
zu wiſſen, wohin? Ihre Schwiegermutter gab ihr
das Geleite drei Viertelmeilen weit. Dieſe ſchluchzte
und weinte neben ihr her, ſtreckte oft ihre gefalteten
Haͤnde vor ſich aus und rief: „Ach, meine liebe
Schwiegertochter! daß Gott ſich erbarme! du wirſt
recht aus dem Hauſe geſtoßen. Mein gottloſer Sohn!
es wird ihm nicht wohl gehn; aber du wirſt noch
Freude erleben. Es muͤßte kein Gott im Himmel ſeyn,
wenn du ſo verlaſſen bleiben ſollteſt. Meine liebe Toch-
ter! es wird dir noch wohl gehn, denke an mich! es
muß dir noch wohl gehn, es muß dir noch wohl gehn
— —„ Der Abend fing an zu daͤmmern, und ſie
mußten ſich trennen. Es war ein herbes, bittres
Lebewohl, was ſich beide ſagten, und niemals ſahen
ſie einander wieder.

Jezt ſchlug ſie ihre verweinten Augen auf, und
ſahe ſich nach einem Orte um, wo ſie herbergen koͤnn-
te. In einiger Ferne entdeckte ſie die friedlichen Stroh-
daͤcher eines Dorfs, darauf eilte ſie zu, und nahm
darin ihre Nachtruhe. Das Doͤrfchen graͤnzte zwiſchen
Schwiebus, wo ihr Mann, und zwiſchen Tirſchtiegel,
wo ihre Mutter wohnte. Ihre von Kummer muͤde
Seele, welche nichts als den Tod zur Rettung aus ih-
rem Elende vor ſich ſah, ſehnte ſich nach der Mutter,
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[58/0090] und ging damit zu dem naͤchſten Thore hinaus, ohne zu wiſſen, wohin? Ihre Schwiegermutter gab ihr das Geleite drei Viertelmeilen weit. Dieſe ſchluchzte und weinte neben ihr her, ſtreckte oft ihre gefalteten Haͤnde vor ſich aus und rief: „Ach, meine liebe Schwiegertochter! daß Gott ſich erbarme! du wirſt recht aus dem Hauſe geſtoßen. Mein gottloſer Sohn! es wird ihm nicht wohl gehn; aber du wirſt noch Freude erleben. Es muͤßte kein Gott im Himmel ſeyn, wenn du ſo verlaſſen bleiben ſollteſt. Meine liebe Toch- ter! es wird dir noch wohl gehn, denke an mich! es muß dir noch wohl gehn, es muß dir noch wohl gehn — —„ Der Abend fing an zu daͤmmern, und ſie mußten ſich trennen. Es war ein herbes, bittres Lebewohl, was ſich beide ſagten, und niemals ſahen ſie einander wieder. Jezt ſchlug ſie ihre verweinten Augen auf, und ſahe ſich nach einem Orte um, wo ſie herbergen koͤnn- te. In einiger Ferne entdeckte ſie die friedlichen Stroh- daͤcher eines Dorfs, darauf eilte ſie zu, und nahm darin ihre Nachtruhe. Das Doͤrfchen graͤnzte zwiſchen Schwiebus, wo ihr Mann, und zwiſchen Tirſchtiegel, wo ihre Mutter wohnte. Ihre von Kummer muͤde Seele, welche nichts als den Tod zur Rettung aus ih- rem Elende vor ſich ſah, ſehnte ſich nach der Mutter, nach den Wohnungen ihrer Jugend, wo ſie unter un-

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/90>, abgerufen am 16.05.2024.