Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

seligen Aufzugs schämte, war noch weit schüchterner,
sich vor dem hochwürdigen Pfarrer sehn zu lassen. Um
also doch ihren Wunsch zu erfüllen, nahm sie das be-
schriebene Papier, schlich damit unter dem Altare weg,
und warf es in den Beichtstuhl, ohne daß ihr Name
darauf geschrieben war. Dies wiederholte sie einige-
male hinter einander, bis der Prediger neugierig wur-
de und aufmerkte: wer doch die Verse in den Beicht-
stuhl würfe. So bald er sie entdeckte, redete er sie an.
Ihr äußeres Ansehn und ihre niedergeschlagene Schüch-
ternheit machten ihm sogleich ihren traurigen Zustand
bekannt. Er nöthigte sie in sein Haus, und wurde
bald ihr aufmunternder Freund. Er schaffte ihr die
Bekanntschaft eines Rektor Rikkerts, Prüvers,
des Burgemeisters Greiffenhagen, und des
Doktor Neugebauers in Fraustadt. Diese Her-
ren empfohlen sie ihren Freunden in Pohlnisch Lissa,
welche ihren Ruf bald bis nach Groß-Glogau
brachten, wo die Dichterin schon Freunde hatte, ehe
sie dieselben kennen lernte.

Jezt bekam sie wieder Nahrung für ihren Geist,
denn diese Herren liehen ihr diejenigen deutschen Bü-
cher, welche sie selbst besaßen, unter andern die
Gespräche im Reiche der Todten
, wodurch
sie Helden und Philosophen der alten und neuern
Zeiten kennen lernte. Sie fanden ihr Genie aus

ſeligen Aufzugs ſchaͤmte, war noch weit ſchuͤchterner,
ſich vor dem hochwuͤrdigen Pfarrer ſehn zu laſſen. Um
alſo doch ihren Wunſch zu erfuͤllen, nahm ſie das be-
ſchriebene Papier, ſchlich damit unter dem Altare weg,
und warf es in den Beichtſtuhl, ohne daß ihr Name
darauf geſchrieben war. Dies wiederholte ſie einige-
male hinter einander, bis der Prediger neugierig wur-
de und aufmerkte: wer doch die Verſe in den Beicht-
ſtuhl wuͤrfe. So bald er ſie entdeckte, redete er ſie an.
Ihr aͤußeres Anſehn und ihre niedergeſchlagene Schuͤch-
ternheit machten ihm ſogleich ihren traurigen Zuſtand
bekannt. Er noͤthigte ſie in ſein Haus, und wurde
bald ihr aufmunternder Freund. Er ſchaffte ihr die
Bekanntſchaft eines Rektor Rikkerts, Pruͤvers,
des Burgemeiſters Greiffenhagen, und des
Doktor Neugebauers in Frauſtadt. Dieſe Her-
ren empfohlen ſie ihren Freunden in Pohlniſch Liſſa,
welche ihren Ruf bald bis nach Groß-Glogau
brachten, wo die Dichterin ſchon Freunde hatte, ehe
ſie dieſelben kennen lernte.

Jezt bekam ſie wieder Nahrung fuͤr ihren Geiſt,
denn dieſe Herren liehen ihr diejenigen deutſchen Buͤ-
cher, welche ſie ſelbſt beſaßen, unter andern die
Geſpraͤche im Reiche der Todten
, wodurch
ſie Helden und Philoſophen der alten und neuern
Zeiten kennen lernte. Sie fanden ihr Genie aus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0098" n="66"/>
&#x017F;eligen Aufzugs &#x017F;cha&#x0364;mte, war noch weit &#x017F;chu&#x0364;chterner,<lb/>
&#x017F;ich vor dem hochwu&#x0364;rdigen Pfarrer &#x017F;ehn zu la&#x017F;&#x017F;en. Um<lb/>
al&#x017F;o doch ihren Wun&#x017F;ch zu erfu&#x0364;llen, nahm &#x017F;ie das be-<lb/>
&#x017F;chriebene Papier, &#x017F;chlich damit unter dem Altare weg,<lb/>
und warf es in den Beicht&#x017F;tuhl, ohne daß ihr Name<lb/>
darauf ge&#x017F;chrieben war. Dies wiederholte &#x017F;ie einige-<lb/>
male hinter einander, bis der Prediger neugierig wur-<lb/>
de und aufmerkte: wer doch die Ver&#x017F;e in den Beicht-<lb/>
&#x017F;tuhl wu&#x0364;rfe. So bald er &#x017F;ie entdeckte, redete er &#x017F;ie an.<lb/>
Ihr a&#x0364;ußeres An&#x017F;ehn und ihre niederge&#x017F;chlagene Schu&#x0364;ch-<lb/>
ternheit machten ihm &#x017F;ogleich ihren traurigen Zu&#x017F;tand<lb/>
bekannt. Er no&#x0364;thigte &#x017F;ie in &#x017F;ein Haus, und wurde<lb/>
bald ihr aufmunternder Freund. Er &#x017F;chaffte ihr die<lb/>
Bekannt&#x017F;chaft eines Rektor <hi rendition="#g">Rikkerts, Pru&#x0364;vers</hi>,<lb/>
des Burgemei&#x017F;ters <hi rendition="#g">Greiffenhagen</hi>, und des<lb/>
Doktor <hi rendition="#g">Neugebauers</hi> in Frau&#x017F;tadt. Die&#x017F;e Her-<lb/>
ren empfohlen &#x017F;ie ihren Freunden in Pohlni&#x017F;ch <hi rendition="#g">Li&#x017F;&#x017F;a</hi>,<lb/>
welche ihren Ruf bald bis nach <hi rendition="#g">Groß-Glogau</hi><lb/>
brachten, wo die Dichterin &#x017F;chon Freunde hatte, ehe<lb/>
&#x017F;ie die&#x017F;elben kennen lernte.</p><lb/>
        <p>Jezt bekam &#x017F;ie wieder Nahrung fu&#x0364;r ihren Gei&#x017F;t,<lb/>
denn die&#x017F;e Herren liehen ihr diejenigen deut&#x017F;chen Bu&#x0364;-<lb/>
cher, welche &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;aßen, unter andern <hi rendition="#g">die<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;che im Reiche der Todten</hi>, wodurch<lb/>
&#x017F;ie Helden und Philo&#x017F;ophen der alten und neuern<lb/>
Zeiten kennen lernte. Sie fanden ihr Genie aus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0098] ſeligen Aufzugs ſchaͤmte, war noch weit ſchuͤchterner, ſich vor dem hochwuͤrdigen Pfarrer ſehn zu laſſen. Um alſo doch ihren Wunſch zu erfuͤllen, nahm ſie das be- ſchriebene Papier, ſchlich damit unter dem Altare weg, und warf es in den Beichtſtuhl, ohne daß ihr Name darauf geſchrieben war. Dies wiederholte ſie einige- male hinter einander, bis der Prediger neugierig wur- de und aufmerkte: wer doch die Verſe in den Beicht- ſtuhl wuͤrfe. So bald er ſie entdeckte, redete er ſie an. Ihr aͤußeres Anſehn und ihre niedergeſchlagene Schuͤch- ternheit machten ihm ſogleich ihren traurigen Zuſtand bekannt. Er noͤthigte ſie in ſein Haus, und wurde bald ihr aufmunternder Freund. Er ſchaffte ihr die Bekanntſchaft eines Rektor Rikkerts, Pruͤvers, des Burgemeiſters Greiffenhagen, und des Doktor Neugebauers in Frauſtadt. Dieſe Her- ren empfohlen ſie ihren Freunden in Pohlniſch Liſſa, welche ihren Ruf bald bis nach Groß-Glogau brachten, wo die Dichterin ſchon Freunde hatte, ehe ſie dieſelben kennen lernte. Jezt bekam ſie wieder Nahrung fuͤr ihren Geiſt, denn dieſe Herren liehen ihr diejenigen deutſchen Buͤ- cher, welche ſie ſelbſt beſaßen, unter andern die Geſpraͤche im Reiche der Todten, wodurch ſie Helden und Philoſophen der alten und neuern Zeiten kennen lernte. Sie fanden ihr Genie aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/98
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/98>, abgerufen am 16.05.2024.