Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

so die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle
zu schöpfen, was man sonst den Kindern der
Gebildeten in eigenen Mährchenbüchern zurecht
macht. Wenn der Stoff auch nicht so rein und
zierlich unbefangen war, wie in diesen, und nicht
für eine so unschuldige kindliche Moral berechnet,
so enthielt er nichts desto weniger immer eine
menschliche Wahrheit und machte, besonders da
in dem vielfältigen Sammelkrame der Frau
Margreth eine reiche Fundgrube die sinnliche An¬
schauung vervollständigte, meine Einbildungs¬
kraft freilich etwas frühreif und für starke Ein¬
drücke empfänglich, etwa wie die Kinder des
Volkes früh an die kräftigen Getränke der Er¬
wachsenen gewöhnt werden, ohne zu verderben.
Denn was ich hörte, beschränkte sich nicht allein
auf diese übersinnliche Fabelwelt; sondern die
Leute besprachen auch auf die leidenschaftlichste
Weise ihre eigenen und fremde Schicksale, und
hauptsächlich das lange Leben der Frau Margreth
und ihres Mannes war reich an ernsten und
heitern Geschichten, an Beispielen der Gerechtig¬
keit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Ver¬

ſo die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle
zu ſchoͤpfen, was man ſonſt den Kindern der
Gebildeten in eigenen Maͤhrchenbuͤchern zurecht
macht. Wenn der Stoff auch nicht ſo rein und
zierlich unbefangen war, wie in dieſen, und nicht
fuͤr eine ſo unſchuldige kindliche Moral berechnet,
ſo enthielt er nichts deſto weniger immer eine
menſchliche Wahrheit und machte, beſonders da
in dem vielfaͤltigen Sammelkrame der Frau
Margreth eine reiche Fundgrube die ſinnliche An¬
ſchauung vervollſtaͤndigte, meine Einbildungs¬
kraft freilich etwas fruͤhreif und fuͤr ſtarke Ein¬
druͤcke empfaͤnglich, etwa wie die Kinder des
Volkes fruͤh an die kraͤftigen Getraͤnke der Er¬
wachſenen gewoͤhnt werden, ohne zu verderben.
Denn was ich hoͤrte, beſchraͤnkte ſich nicht allein
auf dieſe uͤberſinnliche Fabelwelt; ſondern die
Leute beſprachen auch auf die leidenſchaftlichſte
Weiſe ihre eigenen und fremde Schickſale, und
hauptſaͤchlich das lange Leben der Frau Margreth
und ihres Mannes war reich an ernſten und
heitern Geſchichten, an Beiſpielen der Gerechtig¬
keit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Ver¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0217" n="203"/>
&#x017F;o die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle<lb/>
zu &#x017F;cho&#x0364;pfen, was man &#x017F;on&#x017F;t den Kindern der<lb/>
Gebildeten in eigenen Ma&#x0364;hrchenbu&#x0364;chern zurecht<lb/>
macht. Wenn der Stoff auch nicht &#x017F;o rein und<lb/>
zierlich unbefangen war, wie in die&#x017F;en, und nicht<lb/>
fu&#x0364;r eine &#x017F;o un&#x017F;chuldige kindliche Moral berechnet,<lb/>
&#x017F;o enthielt er nichts de&#x017F;to weniger immer eine<lb/>
men&#x017F;chliche Wahrheit und machte, be&#x017F;onders da<lb/>
in dem vielfa&#x0364;ltigen Sammelkrame der Frau<lb/>
Margreth eine reiche Fundgrube die &#x017F;innliche An¬<lb/>
&#x017F;chauung vervoll&#x017F;ta&#x0364;ndigte, meine Einbildungs¬<lb/>
kraft freilich etwas fru&#x0364;hreif und fu&#x0364;r &#x017F;tarke Ein¬<lb/>
dru&#x0364;cke empfa&#x0364;nglich, etwa wie die Kinder des<lb/>
Volkes fru&#x0364;h an die kra&#x0364;ftigen Getra&#x0364;nke der Er¬<lb/>
wach&#x017F;enen gewo&#x0364;hnt werden, ohne zu verderben.<lb/>
Denn was ich ho&#x0364;rte, be&#x017F;chra&#x0364;nkte &#x017F;ich nicht allein<lb/>
auf die&#x017F;e u&#x0364;ber&#x017F;innliche Fabelwelt; &#x017F;ondern die<lb/>
Leute be&#x017F;prachen auch auf die leiden&#x017F;chaftlich&#x017F;te<lb/>
Wei&#x017F;e ihre eigenen und fremde Schick&#x017F;ale, und<lb/>
haupt&#x017F;a&#x0364;chlich das lange Leben der Frau Margreth<lb/>
und ihres Mannes war reich an ern&#x017F;ten und<lb/>
heitern Ge&#x017F;chichten, an Bei&#x017F;pielen der Gerechtig¬<lb/>
keit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Ver¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0217] ſo die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle zu ſchoͤpfen, was man ſonſt den Kindern der Gebildeten in eigenen Maͤhrchenbuͤchern zurecht macht. Wenn der Stoff auch nicht ſo rein und zierlich unbefangen war, wie in dieſen, und nicht fuͤr eine ſo unſchuldige kindliche Moral berechnet, ſo enthielt er nichts deſto weniger immer eine menſchliche Wahrheit und machte, beſonders da in dem vielfaͤltigen Sammelkrame der Frau Margreth eine reiche Fundgrube die ſinnliche An¬ ſchauung vervollſtaͤndigte, meine Einbildungs¬ kraft freilich etwas fruͤhreif und fuͤr ſtarke Ein¬ druͤcke empfaͤnglich, etwa wie die Kinder des Volkes fruͤh an die kraͤftigen Getraͤnke der Er¬ wachſenen gewoͤhnt werden, ohne zu verderben. Denn was ich hoͤrte, beſchraͤnkte ſich nicht allein auf dieſe uͤberſinnliche Fabelwelt; ſondern die Leute beſprachen auch auf die leidenſchaftlichſte Weiſe ihre eigenen und fremde Schickſale, und hauptſaͤchlich das lange Leben der Frau Margreth und ihres Mannes war reich an ernſten und heitern Geſchichten, an Beiſpielen der Gerechtig¬ keit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Ver¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/217
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/217>, abgerufen am 30.04.2024.