Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

diesen Haß zu empfinden: denn wo sich Christen¬
thum geltend machte, war für mich reizlose und
graue Nüchternheit. Ich ging deswegen schon seit
ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche, als an
hohen Festtagen, und die christliche Unterweisung
besuchte ich sehr selten, obgleich ich gesetzlich dazu
verpflichtet war; im Sommer kam ich durch,
weil ich größtentheils auf dem Lande lebte, im
Winter ging ich zwei oder drei Mal und man
schien dies nicht zu bemerken, wie man mir
überhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem
einfachen Grunde, weil ich der grüne Heinrich
hieß, d. h. weil ich meiner ganzen Vergangen¬
heit nach eine abgesonderte und abgeschiedene
Erscheinung war; auch machte ich ein so finste¬
res Gesicht dazu, daß die Geistlichen mich gern
gehen ließen. So genoß ich einer vollständigen
Freiheit, und wie ich glaube nur dadurch, daß
ich mir dieselbe, trotz meiner Jugend, entschlossen
angemaßt; denn ich verstand durchaus keinen
Spaß hierin. Jedoch ein oder zwei Mal im Jahre
mußte ich genugsam für dieselbe bezahlen, wenn
nämlich an mich die Reihe kam, in der Kirche

dieſen Haß zu empfinden: denn wo ſich Chriſten¬
thum geltend machte, war fuͤr mich reizloſe und
graue Nuͤchternheit. Ich ging deswegen ſchon ſeit
ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche, als an
hohen Feſttagen, und die chriſtliche Unterweiſung
beſuchte ich ſehr ſelten, obgleich ich geſetzlich dazu
verpflichtet war; im Sommer kam ich durch,
weil ich groͤßtentheils auf dem Lande lebte, im
Winter ging ich zwei oder drei Mal und man
ſchien dies nicht zu bemerken, wie man mir
uͤberhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem
einfachen Grunde, weil ich der gruͤne Heinrich
hieß, d. h. weil ich meiner ganzen Vergangen¬
heit nach eine abgeſonderte und abgeſchiedene
Erſcheinung war; auch machte ich ein ſo finſte¬
res Geſicht dazu, daß die Geiſtlichen mich gern
gehen ließen. So genoß ich einer vollſtaͤndigen
Freiheit, und wie ich glaube nur dadurch, daß
ich mir dieſelbe, trotz meiner Jugend, entſchloſſen
angemaßt; denn ich verſtand durchaus keinen
Spaß hierin. Jedoch ein oder zwei Mal im Jahre
mußte ich genugſam fuͤr dieſelbe bezahlen, wenn
naͤmlich an mich die Reihe kam, in der Kirche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0296" n="286"/>
die&#x017F;en Haß zu empfinden: denn wo &#x017F;ich Chri&#x017F;ten¬<lb/>
thum geltend machte, war fu&#x0364;r mich reizlo&#x017F;e und<lb/>
graue Nu&#x0364;chternheit. Ich ging deswegen &#x017F;chon &#x017F;eit<lb/>
ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche, als an<lb/>
hohen Fe&#x017F;ttagen, und die chri&#x017F;tliche Unterwei&#x017F;ung<lb/>
be&#x017F;uchte ich &#x017F;ehr &#x017F;elten, obgleich ich ge&#x017F;etzlich dazu<lb/>
verpflichtet war; im Sommer kam ich durch,<lb/>
weil ich gro&#x0364;ßtentheils auf dem Lande lebte, im<lb/>
Winter ging ich zwei oder drei Mal und man<lb/>
&#x017F;chien dies nicht zu bemerken, wie man mir<lb/>
u&#x0364;berhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem<lb/>
einfachen Grunde, weil ich der gru&#x0364;ne Heinrich<lb/>
hieß, d. h. weil ich meiner ganzen Vergangen¬<lb/>
heit nach eine abge&#x017F;onderte und abge&#x017F;chiedene<lb/>
Er&#x017F;cheinung war; auch machte ich ein &#x017F;o fin&#x017F;te¬<lb/>
res Ge&#x017F;icht dazu, daß die Gei&#x017F;tlichen mich gern<lb/>
gehen ließen. So genoß ich einer voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
Freiheit, und wie ich glaube nur dadurch, daß<lb/>
ich mir die&#x017F;elbe, trotz meiner Jugend, ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
angemaßt; denn ich ver&#x017F;tand durchaus keinen<lb/>
Spaß hierin. Jedoch ein oder zwei Mal im Jahre<lb/>
mußte ich genug&#x017F;am fu&#x0364;r die&#x017F;elbe bezahlen, wenn<lb/>
na&#x0364;mlich an mich die Reihe kam, in der Kirche<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[286/0296] dieſen Haß zu empfinden: denn wo ſich Chriſten¬ thum geltend machte, war fuͤr mich reizloſe und graue Nuͤchternheit. Ich ging deswegen ſchon ſeit ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche, als an hohen Feſttagen, und die chriſtliche Unterweiſung beſuchte ich ſehr ſelten, obgleich ich geſetzlich dazu verpflichtet war; im Sommer kam ich durch, weil ich groͤßtentheils auf dem Lande lebte, im Winter ging ich zwei oder drei Mal und man ſchien dies nicht zu bemerken, wie man mir uͤberhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem einfachen Grunde, weil ich der gruͤne Heinrich hieß, d. h. weil ich meiner ganzen Vergangen¬ heit nach eine abgeſonderte und abgeſchiedene Erſcheinung war; auch machte ich ein ſo finſte¬ res Geſicht dazu, daß die Geiſtlichen mich gern gehen ließen. So genoß ich einer vollſtaͤndigen Freiheit, und wie ich glaube nur dadurch, daß ich mir dieſelbe, trotz meiner Jugend, entſchloſſen angemaßt; denn ich verſtand durchaus keinen Spaß hierin. Jedoch ein oder zwei Mal im Jahre mußte ich genugſam fuͤr dieſelbe bezahlen, wenn naͤmlich an mich die Reihe kam, in der Kirche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/296
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/296>, abgerufen am 13.05.2024.