Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

hört, für sich selber das Bekenntniß der Sünden
professionsmäßig betreiben, verwandelt jene natür¬
liche und unbefangene Selbsterkenntniß mit Einem
Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem
mich eine unsägliche frostige Nüchternheit und
Schlaffheit anweht. Daher gedeiht diese Lehre
am besten bei den entnervten und erschöpften
Seelen; denn die Manierirtheit ist der Ceremonien¬
meister des Unvermögens auf jedem Gebiete, und
sie ist es, welche die frischen Geister von jedem
Gebiete wegscheucht, wo sie sich breit macht.

Nach der Lehre von der Sünde kam gleich
die Lehre vom Glauben, als der Erlösung von
jener, und auf sie ward eigentlich das Haupt¬
gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller
Beifügungen, wie daß auch gute Werke vonnöthen
seien, blieb der Schlußgesang doch immer und
allein: Der Glaube macht selig! und dies uns
einleuchtend zu machen als herangewachsenen jun¬
gen Leuten, wandte der geistliche Mann die mög¬
lichst annehmliche und vernünftig scheinende Be¬
redtsamkeit auf. Wenn ich auf den höchsten Berg
laufe und den Himmel abzähle, Stern für Stern,

hoͤrt, fuͤr ſich ſelber das Bekenntniß der Suͤnden
profeſſionsmaͤßig betreiben, verwandelt jene natuͤr¬
liche und unbefangene Selbſterkenntniß mit Einem
Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem
mich eine unſaͤgliche froſtige Nuͤchternheit und
Schlaffheit anweht. Daher gedeiht dieſe Lehre
am beſten bei den entnervten und erſchoͤpften
Seelen; denn die Manierirtheit iſt der Ceremonien¬
meiſter des Unvermoͤgens auf jedem Gebiete, und
ſie iſt es, welche die friſchen Geiſter von jedem
Gebiete wegſcheucht, wo ſie ſich breit macht.

Nach der Lehre von der Suͤnde kam gleich
die Lehre vom Glauben, als der Erloͤſung von
jener, und auf ſie ward eigentlich das Haupt¬
gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller
Beifuͤgungen, wie daß auch gute Werke vonnoͤthen
ſeien, blieb der Schlußgeſang doch immer und
allein: Der Glaube macht ſelig! und dies uns
einleuchtend zu machen als herangewachſenen jun¬
gen Leuten, wandte der geiſtliche Mann die moͤg¬
lichſt annehmliche und vernuͤnftig ſcheinende Be¬
redtſamkeit auf. Wenn ich auf den hoͤchſten Berg
laufe und den Himmel abzaͤhle, Stern fuͤr Stern,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0311" n="301"/>
ho&#x0364;rt, fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elber das Bekenntniß der Su&#x0364;nden<lb/>
profe&#x017F;&#x017F;ionsma&#x0364;ßig betreiben, verwandelt jene natu&#x0364;<lb/>
liche und unbefangene Selb&#x017F;terkenntniß mit Einem<lb/>
Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem<lb/>
mich eine un&#x017F;a&#x0364;gliche fro&#x017F;tige Nu&#x0364;chternheit und<lb/>
Schlaffheit anweht. Daher gedeiht die&#x017F;e Lehre<lb/>
am be&#x017F;ten bei den entnervten und er&#x017F;cho&#x0364;pften<lb/>
Seelen; denn die Manierirtheit i&#x017F;t der Ceremonien¬<lb/>
mei&#x017F;ter des Unvermo&#x0364;gens auf jedem Gebiete, und<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t es, welche die fri&#x017F;chen Gei&#x017F;ter von jedem<lb/>
Gebiete weg&#x017F;cheucht, wo &#x017F;ie &#x017F;ich breit macht.</p><lb/>
        <p>Nach der Lehre von der Su&#x0364;nde kam gleich<lb/>
die Lehre vom Glauben, als der Erlo&#x0364;&#x017F;ung von<lb/>
jener, und auf &#x017F;ie ward eigentlich das Haupt¬<lb/>
gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller<lb/>
Beifu&#x0364;gungen, wie daß auch gute Werke vonno&#x0364;then<lb/>
&#x017F;eien, blieb der Schlußge&#x017F;ang doch immer und<lb/>
allein: Der Glaube macht &#x017F;elig! und dies uns<lb/>
einleuchtend zu machen als herangewach&#x017F;enen jun¬<lb/>
gen Leuten, wandte der gei&#x017F;tliche Mann die mo&#x0364;<lb/>
lich&#x017F;t annehmliche und vernu&#x0364;nftig &#x017F;cheinende Be¬<lb/>
redt&#x017F;amkeit auf. Wenn ich auf den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Berg<lb/>
laufe und den Himmel abza&#x0364;hle, Stern fu&#x0364;r Stern,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301/0311] hoͤrt, fuͤr ſich ſelber das Bekenntniß der Suͤnden profeſſionsmaͤßig betreiben, verwandelt jene natuͤr¬ liche und unbefangene Selbſterkenntniß mit Einem Schlage in ein manierirtes Zopfthum, aus welchem mich eine unſaͤgliche froſtige Nuͤchternheit und Schlaffheit anweht. Daher gedeiht dieſe Lehre am beſten bei den entnervten und erſchoͤpften Seelen; denn die Manierirtheit iſt der Ceremonien¬ meiſter des Unvermoͤgens auf jedem Gebiete, und ſie iſt es, welche die friſchen Geiſter von jedem Gebiete wegſcheucht, wo ſie ſich breit macht. Nach der Lehre von der Suͤnde kam gleich die Lehre vom Glauben, als der Erloͤſung von jener, und auf ſie ward eigentlich das Haupt¬ gewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller Beifuͤgungen, wie daß auch gute Werke vonnoͤthen ſeien, blieb der Schlußgeſang doch immer und allein: Der Glaube macht ſelig! und dies uns einleuchtend zu machen als herangewachſenen jun¬ gen Leuten, wandte der geiſtliche Mann die moͤg¬ lichſt annehmliche und vernuͤnftig ſcheinende Be¬ redtſamkeit auf. Wenn ich auf den hoͤchſten Berg laufe und den Himmel abzaͤhle, Stern fuͤr Stern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/311
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/311>, abgerufen am 12.05.2024.