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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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als er in die Stube trat. Wir schlossen also
unsere Wohnung zu und fuhren mit ihm hinaus,
wo meine Mutter wie ein halbes Meerwunder
empfangen und geehrt wurde. Sie enthielt sich
jedoch, alle die Orte, die ihr theuer waren, auf¬
zusuchen und ihre gealterten Bekannten zu sehen,
sondern eilte, sich bei dem kranken Kinde einzu¬
richten; erst nach und nach benutzte sie günstige
Augenblicke, und es dauerte Monate lang, bis sie
alle Jugendfreunde gesehen, obgleich die meisten
in der Nähe wohnten.

Ich hielt mich im Hause des Oheims auf
und ging alle Tage an den See hinüber. Anna
litt Morgens und Abends und in der Nacht am
meisten; den Tag über schlummerte sie oder lag
lächelnd im Bette und ich saß an demselben, ohne
viel zu wissen, was ich sagen sollte. Unser Ver¬
hältniß trat äußerlich zurück vor dem schweren
Leiden und der Trauer, welche die Zukunft nur
halb verhüllte. Wenn ich manchmal ganz allein
auf eine Viertelstunde bei ihr saß, so hielt ich
ihre Hand, während sie mich bald ernst, bald
lächelnd ansah, ohne zu sprechen, oder höchstens,

als er in die Stube trat. Wir ſchloſſen alſo
unſere Wohnung zu und fuhren mit ihm hinaus,
wo meine Mutter wie ein halbes Meerwunder
empfangen und geehrt wurde. Sie enthielt ſich
jedoch, alle die Orte, die ihr theuer waren, auf¬
zuſuchen und ihre gealterten Bekannten zu ſehen,
ſondern eilte, ſich bei dem kranken Kinde einzu¬
richten; erſt nach und nach benutzte ſie guͤnſtige
Augenblicke, und es dauerte Monate lang, bis ſie
alle Jugendfreunde geſehen, obgleich die meiſten
in der Naͤhe wohnten.

Ich hielt mich im Hauſe des Oheims auf
und ging alle Tage an den See hinuͤber. Anna
litt Morgens und Abends und in der Nacht am
meiſten; den Tag uͤber ſchlummerte ſie oder lag
laͤchelnd im Bette und ich ſaß an demſelben, ohne
viel zu wiſſen, was ich ſagen ſollte. Unſer Ver¬
haͤltniß trat aͤußerlich zuruͤck vor dem ſchweren
Leiden und der Trauer, welche die Zukunft nur
halb verhuͤllte. Wenn ich manchmal ganz allein
auf eine Viertelſtunde bei ihr ſaß, ſo hielt ich
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[108/0118] als er in die Stube trat. Wir ſchloſſen alſo unſere Wohnung zu und fuhren mit ihm hinaus, wo meine Mutter wie ein halbes Meerwunder empfangen und geehrt wurde. Sie enthielt ſich jedoch, alle die Orte, die ihr theuer waren, auf¬ zuſuchen und ihre gealterten Bekannten zu ſehen, ſondern eilte, ſich bei dem kranken Kinde einzu¬ richten; erſt nach und nach benutzte ſie guͤnſtige Augenblicke, und es dauerte Monate lang, bis ſie alle Jugendfreunde geſehen, obgleich die meiſten in der Naͤhe wohnten. Ich hielt mich im Hauſe des Oheims auf und ging alle Tage an den See hinuͤber. Anna litt Morgens und Abends und in der Nacht am meiſten; den Tag uͤber ſchlummerte ſie oder lag laͤchelnd im Bette und ich ſaß an demſelben, ohne viel zu wiſſen, was ich ſagen ſollte. Unſer Ver¬ haͤltniß trat aͤußerlich zuruͤck vor dem ſchweren Leiden und der Trauer, welche die Zukunft nur halb verhuͤllte. Wenn ich manchmal ganz allein auf eine Viertelſtunde bei ihr ſaß, ſo hielt ich ihre Hand, waͤhrend ſie mich bald ernſt, bald laͤchelnd anſah, ohne zu ſprechen, oder hoͤchſtens,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/118>, abgerufen am 30.04.2024.