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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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denen Tage da lag. Ich hatte mich erhoben und
vor das Bett gestellt und indem ihre Gesichts¬
züge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber
nur hauchend und tonlos; es blieb todtenstill und
als ich zugleich zaghaft ihre Hand berührte, zog
ich die meinige entsetzt zurück, als ob ich an glü¬
hendes Eisen gekommen wäre; denn die Hand
war kalt, wie ein Häuflein kühler Thon.

Wie dies abstoßende kalte Gefühl meinen gan¬
zen Körper durchrieselte, ließ es mir nun auch
plötzlich das Gesicht der Leiche so seelenlos und
abwesend erscheinen, daß mir beinahe der erschreckte
Ausruf entfuhr: "Was hab' ich mit Dir zu schaf¬
fen?" als aus dem Saale her die Orgel in mil¬
den und doch kräftigen Tönen erklang, welche
nur manchmal in leidvollem Zittern schwankten,
dann aber wieder zu harmonischer Kraft sich er¬
mannten. Es war der Schulmeister, welcher in
dieser Morgenfrühe seinen Schmerz und seine
Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum
Lob der Unsterblichkeit zu lindern suchte. Ich
lauschte der Melodie, sie bezwang meinen körper¬
lichen Schrecken, ihre geheimnißvollen Töne öffne¬

denen Tage da lag. Ich hatte mich erhoben und
vor das Bett geſtellt und indem ihre Geſichts¬
zuͤge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber
nur hauchend und tonlos; es blieb todtenſtill und
als ich zugleich zaghaft ihre Hand beruͤhrte, zog
ich die meinige entſetzt zuruͤck, als ob ich an gluͤ¬
hendes Eiſen gekommen waͤre; denn die Hand
war kalt, wie ein Haͤuflein kuͤhler Thon.

Wie dies abſtoßende kalte Gefuͤhl meinen gan¬
zen Koͤrper durchrieſelte, ließ es mir nun auch
ploͤtzlich das Geſicht der Leiche ſo ſeelenlos und
abweſend erſcheinen, daß mir beinahe der erſchreckte
Ausruf entfuhr: »Was hab' ich mit Dir zu ſchaf¬
fen?« als aus dem Saale her die Orgel in mil¬
den und doch kraͤftigen Toͤnen erklang, welche
nur manchmal in leidvollem Zittern ſchwankten,
dann aber wieder zu harmoniſcher Kraft ſich er¬
mannten. Es war der Schulmeiſter, welcher in
dieſer Morgenfruͤhe ſeinen Schmerz und ſeine
Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum
Lob der Unſterblichkeit zu lindern ſuchte. Ich
lauſchte der Melodie, ſie bezwang meinen koͤrper¬
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[146/0156] denen Tage da lag. Ich hatte mich erhoben und vor das Bett geſtellt und indem ihre Geſichts¬ zuͤge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber nur hauchend und tonlos; es blieb todtenſtill und als ich zugleich zaghaft ihre Hand beruͤhrte, zog ich die meinige entſetzt zuruͤck, als ob ich an gluͤ¬ hendes Eiſen gekommen waͤre; denn die Hand war kalt, wie ein Haͤuflein kuͤhler Thon. Wie dies abſtoßende kalte Gefuͤhl meinen gan¬ zen Koͤrper durchrieſelte, ließ es mir nun auch ploͤtzlich das Geſicht der Leiche ſo ſeelenlos und abweſend erſcheinen, daß mir beinahe der erſchreckte Ausruf entfuhr: »Was hab' ich mit Dir zu ſchaf¬ fen?« als aus dem Saale her die Orgel in mil¬ den und doch kraͤftigen Toͤnen erklang, welche nur manchmal in leidvollem Zittern ſchwankten, dann aber wieder zu harmoniſcher Kraft ſich er¬ mannten. Es war der Schulmeiſter, welcher in dieſer Morgenfruͤhe ſeinen Schmerz und ſeine Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum Lob der Unſterblichkeit zu lindern ſuchte. Ich lauſchte der Melodie, ſie bezwang meinen koͤrper¬ lichen Schrecken, ihre geheimnißvollen Toͤne oͤffne¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/156>, abgerufen am 30.04.2024.