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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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mit großer Geschicklichkeit; sie führte mit großer
Anmuth den Kamm und Heinrich mußte gestehen,
als er die hochgewachsene Frau betrachtete und
die immer noch schönen Anlagen und Züge ihres
Gesichtes sah, daß sie wenigstens einen wahren
Grund ihrer Eitelkeit gehabt. Doch wurde sein
Auge bald von Agnes allein beschäftigt. Sie saß
mit bloßem Halse, von der Nacht der aufgelösten
Haare umschattet; um die langen Stränge zu
kämmen und zu salben, mußte die Mutter weit
von ihr zurücktreten. Sie sprach fortwährend,
indessen weder Heinrich noch Agnes etwas sagten.
Er hätte gewünscht, ein Jahr in dieser Ruhe zu
verharren und keinen anderen Anblick zu haben,
als diesen.

Endlich war das Haar gemacht und Agnese
ging in ihre Kammer, das Dianengewand wieder
anzuziehen; die Mutter ging mit, ihr zu helfen;
allein sobald sie einigermaßen damit zu Stande
gekommen, erschienen sie wieder und vollendeten
den Anzug in der Stube, weil die Alte sich un¬
terhalten wollte.

Agnes sah nun wo möglich noch wunderbarer

mit großer Geſchicklichkeit; ſie fuͤhrte mit großer
Anmuth den Kamm und Heinrich mußte geſtehen,
als er die hochgewachſene Frau betrachtete und
die immer noch ſchoͤnen Anlagen und Zuͤge ihres
Geſichtes ſah, daß ſie wenigſtens einen wahren
Grund ihrer Eitelkeit gehabt. Doch wurde ſein
Auge bald von Agnes allein beſchaͤftigt. Sie ſaß
mit bloßem Halſe, von der Nacht der aufgeloͤſten
Haare umſchattet; um die langen Straͤnge zu
kaͤmmen und zu ſalben, mußte die Mutter weit
von ihr zuruͤcktreten. Sie ſprach fortwaͤhrend,
indeſſen weder Heinrich noch Agnes etwas ſagten.
Er haͤtte gewuͤnſcht, ein Jahr in dieſer Ruhe zu
verharren und keinen anderen Anblick zu haben,
als dieſen.

Endlich war das Haar gemacht und Agneſe
ging in ihre Kammer, das Dianengewand wieder
anzuziehen; die Mutter ging mit, ihr zu helfen;
allein ſobald ſie einigermaßen damit zu Stande
gekommen, erſchienen ſie wieder und vollendeten
den Anzug in der Stube, weil die Alte ſich un¬
terhalten wollte.

Agnes ſah nun wo moͤglich noch wunderbarer

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[311/0321] mit großer Geſchicklichkeit; ſie fuͤhrte mit großer Anmuth den Kamm und Heinrich mußte geſtehen, als er die hochgewachſene Frau betrachtete und die immer noch ſchoͤnen Anlagen und Zuͤge ihres Geſichtes ſah, daß ſie wenigſtens einen wahren Grund ihrer Eitelkeit gehabt. Doch wurde ſein Auge bald von Agnes allein beſchaͤftigt. Sie ſaß mit bloßem Halſe, von der Nacht der aufgeloͤſten Haare umſchattet; um die langen Straͤnge zu kaͤmmen und zu ſalben, mußte die Mutter weit von ihr zuruͤcktreten. Sie ſprach fortwaͤhrend, indeſſen weder Heinrich noch Agnes etwas ſagten. Er haͤtte gewuͤnſcht, ein Jahr in dieſer Ruhe zu verharren und keinen anderen Anblick zu haben, als dieſen. Endlich war das Haar gemacht und Agneſe ging in ihre Kammer, das Dianengewand wieder anzuziehen; die Mutter ging mit, ihr zu helfen; allein ſobald ſie einigermaßen damit zu Stande gekommen, erſchienen ſie wieder und vollendeten den Anzug in der Stube, weil die Alte ſich un¬ terhalten wollte. Agnes ſah nun wo moͤglich noch wunderbarer

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/321>, abgerufen am 13.05.2024.