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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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terbrechen, allein Lys übersprach ihn und fuhr
fort: "Angenehm oder unangenehm aber ist nicht
nur alles Sinnliche, sondern auch die moralischen
Hirngespinnste sind es. So bist Du jetzt sinnlich
verliebt in das eigenthümliche Mädchen, dessen
absonderliche Gestalt und Art die äußersten Sinne
reizt, wie ich nun an mir einsehe; dies ist Dir
angenehm; aber weil Du wohl merkst, daß Du
dabei kein rechtes Herz hast, nicht in Deinem
eigentlichen Sinne liebst, so verbindest Du mit
jenem Reiz noch die moralische Annehmlichkeit,
Dich für das schmale Wesen in's Zeug zu wer¬
fen und den uneigennützigen Beschützer zu machen.
Wisse aber, wenn Du einen Funken eigentlicher
Leidenschaft verspürtest, so würdest und müßtest
Du allein darnach trachten, Deinen Schützling
meinem Bereiche ganz zu entziehen und Dir an¬
zueignen. Du hast aber die wahre Leidenschaft
noch nie gekannt, weder in meinem noch in Dei¬
nem Sinne. Was Du als halbes Kind erlebt,
war das bloße Erwachen Deines Bewußtseins,
das sich auf sehr normale Weise sogleich in zwei
Theile spaltete und an die ersten zufälligen Ge¬

terbrechen, allein Lys uͤberſprach ihn und fuhr
fort: »Angenehm oder unangenehm aber iſt nicht
nur alles Sinnliche, ſondern auch die moraliſchen
Hirngeſpinnſte ſind es. So biſt Du jetzt ſinnlich
verliebt in das eigenthuͤmliche Maͤdchen, deſſen
abſonderliche Geſtalt und Art die aͤußerſten Sinne
reizt, wie ich nun an mir einſehe; dies iſt Dir
angenehm; aber weil Du wohl merkſt, daß Du
dabei kein rechtes Herz haſt, nicht in Deinem
eigentlichen Sinne liebſt, ſo verbindeſt Du mit
jenem Reiz noch die moraliſche Annehmlichkeit,
Dich fuͤr das ſchmale Weſen in's Zeug zu wer¬
fen und den uneigennuͤtzigen Beſchuͤtzer zu machen.
Wiſſe aber, wenn Du einen Funken eigentlicher
Leidenſchaft verſpuͤrteſt, ſo wuͤrdeſt und muͤßteſt
Du allein darnach trachten, Deinen Schuͤtzling
meinem Bereiche ganz zu entziehen und Dir an¬
zueignen. Du haſt aber die wahre Leidenſchaft
noch nie gekannt, weder in meinem noch in Dei¬
nem Sinne. Was Du als halbes Kind erlebt,
war das bloße Erwachen Deines Bewußtſeins,
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[348/0358] terbrechen, allein Lys uͤberſprach ihn und fuhr fort: »Angenehm oder unangenehm aber iſt nicht nur alles Sinnliche, ſondern auch die moraliſchen Hirngeſpinnſte ſind es. So biſt Du jetzt ſinnlich verliebt in das eigenthuͤmliche Maͤdchen, deſſen abſonderliche Geſtalt und Art die aͤußerſten Sinne reizt, wie ich nun an mir einſehe; dies iſt Dir angenehm; aber weil Du wohl merkſt, daß Du dabei kein rechtes Herz haſt, nicht in Deinem eigentlichen Sinne liebſt, ſo verbindeſt Du mit jenem Reiz noch die moraliſche Annehmlichkeit, Dich fuͤr das ſchmale Weſen in's Zeug zu wer¬ fen und den uneigennuͤtzigen Beſchuͤtzer zu machen. Wiſſe aber, wenn Du einen Funken eigentlicher Leidenſchaft verſpuͤrteſt, ſo wuͤrdeſt und muͤßteſt Du allein darnach trachten, Deinen Schuͤtzling meinem Bereiche ganz zu entziehen und Dir an¬ zueignen. Du haſt aber die wahre Leidenſchaft noch nie gekannt, weder in meinem noch in Dei¬ nem Sinne. Was Du als halbes Kind erlebt, war das bloße Erwachen Deines Bewußtſeins, das ſich auf ſehr normale Weiſe ſogleich in zwei Theile ſpaltete und an die erſten zufaͤlligen Ge¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/358>, abgerufen am 04.05.2024.