Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

ein Gespräch an und suchte mich an demselben zu be¬
theiligen und nach der herkömmlichen Weise meine
Urtheilskraft zu prüfen, zu mildern und zu ge¬
meinsamer Erbauung auf einen belehrenden Ver¬
einigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch
den letzten Sommer die Lust an solchen Erörte¬
rungen fast gänzlich verloren, mein Blick war auf
sinnliche Erscheinung und Gestalt gerichtet, und
selbst die räthselhaften Betrachtungen über die
Erfahrungen, die ich mit Römer anstellte, gingen
in einem durchaus weltlichen Sinne vor sich.
Außerdem fühlte ich, daß ich nun die größte Rück¬
sicht auf Anna nehmen mußte, und als ich be¬
merkte, daß sie sogar froh schien, mich hier einge¬
fangen und einem angehenden Bekehrungswerke
preisgegeben zu sehen, hütete ich mich wohl,
einen Widerspruch zu äußern, gab denjenigen
Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten
oder tief, schön und kraftvoll ausgedrückt waren,
meinen aufrichtigen Beifall, oder überließ mich
einer reizenden Langweile, die schönen Farben an
Anna's Seidenknäulchen beschauend.

Sie hatte sich wohl ausgeruht und schien

ein Geſpraͤch an und ſuchte mich an demſelben zu be¬
theiligen und nach der herkoͤmmlichen Weiſe meine
Urtheilskraft zu pruͤfen, zu mildern und zu ge¬
meinſamer Erbauung auf einen belehrenden Ver¬
einigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch
den letzten Sommer die Luſt an ſolchen Eroͤrte¬
rungen faſt gaͤnzlich verloren, mein Blick war auf
ſinnliche Erſcheinung und Geſtalt gerichtet, und
ſelbſt die raͤthſelhaften Betrachtungen uͤber die
Erfahrungen, die ich mit Roͤmer anſtellte, gingen
in einem durchaus weltlichen Sinne vor ſich.
Außerdem fuͤhlte ich, daß ich nun die groͤßte Ruͤck¬
ſicht auf Anna nehmen mußte, und als ich be¬
merkte, daß ſie ſogar froh ſchien, mich hier einge¬
fangen und einem angehenden Bekehrungswerke
preisgegeben zu ſehen, huͤtete ich mich wohl,
einen Widerſpruch zu aͤußern, gab denjenigen
Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten
oder tief, ſchoͤn und kraftvoll ausgedruͤckt waren,
meinen aufrichtigen Beifall, oder uͤberließ mich
einer reizenden Langweile, die ſchoͤnen Farben an
Anna's Seidenknaͤulchen beſchauend.

Sie hatte ſich wohl ausgeruht und ſchien

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0068" n="58"/>
ein Ge&#x017F;pra&#x0364;ch an und &#x017F;uchte mich an dem&#x017F;elben zu be¬<lb/>
theiligen und nach der herko&#x0364;mmlichen Wei&#x017F;e meine<lb/>
Urtheilskraft zu pru&#x0364;fen, zu mildern und zu ge¬<lb/>
mein&#x017F;amer Erbauung auf einen belehrenden Ver¬<lb/>
einigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch<lb/>
den letzten Sommer die Lu&#x017F;t an &#x017F;olchen Ero&#x0364;rte¬<lb/>
rungen fa&#x017F;t ga&#x0364;nzlich verloren, mein Blick war auf<lb/>
&#x017F;innliche Er&#x017F;cheinung und Ge&#x017F;talt gerichtet, und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die ra&#x0364;th&#x017F;elhaften Betrachtungen u&#x0364;ber die<lb/>
Erfahrungen, die ich mit Ro&#x0364;mer an&#x017F;tellte, gingen<lb/>
in einem durchaus weltlichen Sinne vor &#x017F;ich.<lb/>
Außerdem fu&#x0364;hlte ich, daß ich nun die gro&#x0364;ßte Ru&#x0364;ck¬<lb/>
&#x017F;icht auf Anna nehmen mußte, und als ich be¬<lb/>
merkte, daß &#x017F;ie &#x017F;ogar froh &#x017F;chien, mich hier einge¬<lb/>
fangen und einem angehenden Bekehrungswerke<lb/>
preisgegeben zu &#x017F;ehen, hu&#x0364;tete ich mich wohl,<lb/>
einen Wider&#x017F;pruch zu a&#x0364;ußern, gab denjenigen<lb/>
Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten<lb/>
oder tief, &#x017F;cho&#x0364;n und kraftvoll ausgedru&#x0364;ckt waren,<lb/>
meinen aufrichtigen Beifall, oder u&#x0364;berließ mich<lb/>
einer reizenden Langweile, die &#x017F;cho&#x0364;nen Farben an<lb/>
Anna's Seidenkna&#x0364;ulchen be&#x017F;chauend.</p><lb/>
        <p>Sie hatte &#x017F;ich wohl ausgeruht und &#x017F;chien<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0068] ein Geſpraͤch an und ſuchte mich an demſelben zu be¬ theiligen und nach der herkoͤmmlichen Weiſe meine Urtheilskraft zu pruͤfen, zu mildern und zu ge¬ meinſamer Erbauung auf einen belehrenden Ver¬ einigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch den letzten Sommer die Luſt an ſolchen Eroͤrte¬ rungen faſt gaͤnzlich verloren, mein Blick war auf ſinnliche Erſcheinung und Geſtalt gerichtet, und ſelbſt die raͤthſelhaften Betrachtungen uͤber die Erfahrungen, die ich mit Roͤmer anſtellte, gingen in einem durchaus weltlichen Sinne vor ſich. Außerdem fuͤhlte ich, daß ich nun die groͤßte Ruͤck¬ ſicht auf Anna nehmen mußte, und als ich be¬ merkte, daß ſie ſogar froh ſchien, mich hier einge¬ fangen und einem angehenden Bekehrungswerke preisgegeben zu ſehen, huͤtete ich mich wohl, einen Widerſpruch zu aͤußern, gab denjenigen Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten oder tief, ſchoͤn und kraftvoll ausgedruͤckt waren, meinen aufrichtigen Beifall, oder uͤberließ mich einer reizenden Langweile, die ſchoͤnen Farben an Anna's Seidenknaͤulchen beſchauend. Sie hatte ſich wohl ausgeruht und ſchien

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/68
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/68>, abgerufen am 03.05.2024.