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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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man trachten, sonst wird das, was man schon
hat, blind und unedel.

Es reizte Heinrich, auch in dieser Frage die
Welt seinem Gotte, zwar immer in dessen Na¬
men, unabhängig gegenüber zu stellen und einen
moralischen freien Willen des Menschen, als in
dessen Gesammtorganismus begründet und als
dessen höchstes Gut, aufzufinden. Sogleich sagte
ihm ein guter Sinn, daß wenn auch dieser freie
Wille ursprünglich in den ersten Geschlechtern und
auch jetzt noch in wilden Völkerstämmen und ver¬
wahrlosten Einzelnen nicht vorhanden, derselbe
sich doch einfinden und auswachsen mußte, sobald
überhaupt die Frage nach ihm sich einfand, und
daß, wenn Voltaire's Trumpf: "wenn es keinen
Gott gäbe, so müßte man einen erfinden!" viel
mehr eine Blasphemie als eine "positive" Re¬
densart war, es sich nicht also verhalte, wenn
man dieselbe auf das Dasein des freien Willens
anwende, und man vielmehr nach Menschenpflicht
und Recht sagen müsse: Wenn es bis diesen Au¬
genblick wirklich keinen freien Willen gegeben
hätte, so wäre es "des Schweißes der Edlen" werth,

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man trachten, ſonſt wird das, was man ſchon
hat, blind und unedel.

Es reizte Heinrich, auch in dieſer Frage die
Welt ſeinem Gotte, zwar immer in deſſen Na¬
men, unabhaͤngig gegenuͤber zu ſtellen und einen
moraliſchen freien Willen des Menſchen, als in
deſſen Geſammtorganismus begruͤndet und als
deſſen hoͤchſtes Gut, aufzufinden. Sogleich ſagte
ihm ein guter Sinn, daß wenn auch dieſer freie
Wille urſpruͤnglich in den erſten Geſchlechtern und
auch jetzt noch in wilden Voͤlkerſtaͤmmen und ver¬
wahrloſten Einzelnen nicht vorhanden, derſelbe
ſich doch einfinden und auswachſen mußte, ſobald
uͤberhaupt die Frage nach ihm ſich einfand, und
daß, wenn Voltaire's Trumpf: »wenn es keinen
Gott gaͤbe, ſo muͤßte man einen erfinden!« viel
mehr eine Blasphemie als eine »poſitive« Re¬
densart war, es ſich nicht alſo verhalte, wenn
man dieſelbe auf das Daſein des freien Willens
anwende, und man vielmehr nach Menſchenpflicht
und Recht ſagen muͤſſe: Wenn es bis dieſen Au¬
genblick wirklich keinen freien Willen gegeben
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[73/0083] man trachten, ſonſt wird das, was man ſchon hat, blind und unedel. Es reizte Heinrich, auch in dieſer Frage die Welt ſeinem Gotte, zwar immer in deſſen Na¬ men, unabhaͤngig gegenuͤber zu ſtellen und einen moraliſchen freien Willen des Menſchen, als in deſſen Geſammtorganismus begruͤndet und als deſſen hoͤchſtes Gut, aufzufinden. Sogleich ſagte ihm ein guter Sinn, daß wenn auch dieſer freie Wille urſpruͤnglich in den erſten Geſchlechtern und auch jetzt noch in wilden Voͤlkerſtaͤmmen und ver¬ wahrloſten Einzelnen nicht vorhanden, derſelbe ſich doch einfinden und auswachſen mußte, ſobald uͤberhaupt die Frage nach ihm ſich einfand, und daß, wenn Voltaire's Trumpf: »wenn es keinen Gott gaͤbe, ſo muͤßte man einen erfinden!« viel mehr eine Blasphemie als eine »poſitive« Re¬ densart war, es ſich nicht alſo verhalte, wenn man dieſelbe auf das Daſein des freien Willens anwende, und man vielmehr nach Menſchenpflicht und Recht ſagen muͤſſe: Wenn es bis dieſen Au¬ genblick wirklich keinen freien Willen gegeben haͤtte, ſo waͤre es »des Schweißes der Edlen« werth, 5 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/83>, abgerufen am 29.04.2024.