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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Diese rächten sich für ihren mißlungenen
Zug dadurch, daß sie den sieghaften Gegnern
auf der Stelle die abscheulichste und rücksichts¬
loseste Rachsucht zuschrieben und daß Jeder, der
entkommen war, es als für gewiß annahm, die
Gefangenen würden erschossen werden. Es gab
Leute, die sonst nicht ganz unklug waren, welche
allen Ernstes glaubten und wieder sagten, daß
die fanatisirten Bauern gefangene Freischärler
zwischen zwei Bretter gebunden und entzweige¬
sägt, oder auch etliche derselben gekreuziget hätten.

Sobald Frau Regula diese Übertreibungen
und dies unmäßige Mißtrauen vernahm, verlor
sie die Hälfte des Schreckens, welchen sie zuerst
empfunden, da die Thorheit der Leute ihren Ein¬
fluß auf die Wohlbestellten immer selbst regulirt
und unschädlich macht. Denn hätten die Seld¬
wyler nur etwa die Befürchtung ausgesprochen,
die Gefangenen könnten vielleicht wohl erschossen
werden nach dem Standrecht, so wäre sie in
tödtlicher Besorgniß geblieben; als man aber
sagte, sie seien entzweigesägt und gekreuzigt,
glaubte sie auch jenes nicht mehr. Dagegen
erhielt sie bald einen kurzen Brief von ihrem

Keller, die Leute von Seldwyla. 12

Dieſe rächten ſich für ihren mißlungenen
Zug dadurch, daß ſie den ſieghaften Gegnern
auf der Stelle die abſcheulichſte und rückſichts¬
loſeſte Rachſucht zuſchrieben und daß Jeder, der
entkommen war, es als für gewiß annahm, die
Gefangenen würden erſchoſſen werden. Es gab
Leute, die ſonſt nicht ganz unklug waren, welche
allen Ernſtes glaubten und wieder ſagten, daß
die fanatiſirten Bauern gefangene Freiſchärler
zwiſchen zwei Bretter gebunden und entzweige¬
ſägt, oder auch etliche derſelben gekreuziget hätten.

Sobald Frau Regula dieſe Übertreibungen
und dies unmäßige Mißtrauen vernahm, verlor
ſie die Hälfte des Schreckens, welchen ſie zuerſt
empfunden, da die Thorheit der Leute ihren Ein¬
fluß auf die Wohlbeſtellten immer ſelbſt regulirt
und unſchädlich macht. Denn hätten die Seld¬
wyler nur etwa die Befürchtung ausgeſprochen,
die Gefangenen könnten vielleicht wohl erſchoſſen
werden nach dem Standrecht, ſo wäre ſie in
tödtlicher Beſorgniß geblieben; als man aber
ſagte, ſie ſeien entzweigeſägt und gekreuzigt,
glaubte ſie auch jenes nicht mehr. Dagegen
erhielt ſie bald einen kurzen Brief von ihrem

Keller, die Leute von Seldwyla. 12
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[177/0189] Dieſe rächten ſich für ihren mißlungenen Zug dadurch, daß ſie den ſieghaften Gegnern auf der Stelle die abſcheulichſte und rückſichts¬ loſeſte Rachſucht zuſchrieben und daß Jeder, der entkommen war, es als für gewiß annahm, die Gefangenen würden erſchoſſen werden. Es gab Leute, die ſonſt nicht ganz unklug waren, welche allen Ernſtes glaubten und wieder ſagten, daß die fanatiſirten Bauern gefangene Freiſchärler zwiſchen zwei Bretter gebunden und entzweige¬ ſägt, oder auch etliche derſelben gekreuziget hätten. Sobald Frau Regula dieſe Übertreibungen und dies unmäßige Mißtrauen vernahm, verlor ſie die Hälfte des Schreckens, welchen ſie zuerſt empfunden, da die Thorheit der Leute ihren Ein¬ fluß auf die Wohlbeſtellten immer ſelbſt regulirt und unſchädlich macht. Denn hätten die Seld¬ wyler nur etwa die Befürchtung ausgeſprochen, die Gefangenen könnten vielleicht wohl erſchoſſen werden nach dem Standrecht, ſo wäre ſie in tödtlicher Beſorgniß geblieben; als man aber ſagte, ſie ſeien entzweigeſägt und gekreuzigt, glaubte ſie auch jenes nicht mehr. Dagegen erhielt ſie bald einen kurzen Brief von ihrem Keller, die Leute von Seldwyla. 12

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/189>, abgerufen am 29.04.2024.