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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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ein riesiger Schatten, da meine Frau, wie mir schien
auf zitternden Füßen, mit dem Nachtlämpchen vor ihm
herschwankte und das Licht mit der Hand so bedeckte, daß
nach rückwärts kein Schein fallen konnte. So ging's
die Treppe hinunter, das Hausthor wurde geöffnet und
geschlossen, die Frau kam wieder heraufgestiegen, vor
ihrer Thüre hielt sie einen Augenblick an und that einen
tiefen Seufzer; dann verschwand sie und alles ward wieder
still. Dann schlug es zwei Uhr auf den Thürmen. Die
Frau war, so viel ich sehen konnte, in ihrem Nachtgewande.

"Begreiflich fand ich keinen Schlaf mehr. Die Laterne
in unserem Treppenhaus wird Punkt zehn Uhr gelöscht
und das Thor geschlossen; der Mensch oder was es war,
mußte also sich vor dieser Zeit in's Haus geschlichen
haben oder dann einen Hausschlüssel besitzen. Als ich
um die fünfte Morgenstunde schellte, that mir die Frau
die Thüre auf, nach der während der Abwesenheit des
Herrn eingeführten Ordnung; denn wenn er da ist, so
wird der Flurschlüssel nicht inwendig umgedreht, damit
ich des Morgens selbst öffnen kann und nicht zu läuten
brauche. Die Frau zog sich aber wie ein Geist sogleich
wieder in ihr Schlafzimmer zurück. In den von der
Sonne erhellten Zimmern bemerkte ich wenig Unordnung.
Einzig in dem Eßzimmer stand das Büffet geöffnet; eine
Caraffe, in der sich seit Wochen ungefähr eine halbe
Flasche sicilianischen Weines fast unverändert befunden
hatte, war geleert, das vorhandene Brot im Körbchen

ein rieſiger Schatten, da meine Frau, wie mir ſchien
auf zitternden Füßen, mit dem Nachtlämpchen vor ihm
herſchwankte und das Licht mit der Hand ſo bedeckte, daß
nach rückwärts kein Schein fallen konnte. So ging's
die Treppe hinunter, das Hausthor wurde geöffnet und
geſchloſſen, die Frau kam wieder heraufgeſtiegen, vor
ihrer Thüre hielt ſie einen Augenblick an und that einen
tiefen Seufzer; dann verſchwand ſie und alles ward wieder
ſtill. Dann ſchlug es zwei Uhr auf den Thürmen. Die
Frau war, ſo viel ich ſehen konnte, in ihrem Nachtgewande.

„Begreiflich fand ich keinen Schlaf mehr. Die Laterne
in unſerem Treppenhaus wird Punkt zehn Uhr gelöſcht
und das Thor geſchloſſen; der Menſch oder was es war,
mußte alſo ſich vor dieſer Zeit in's Haus geſchlichen
haben oder dann einen Hausſchlüſſel beſitzen. Als ich
um die fünfte Morgenſtunde ſchellte, that mir die Frau
die Thüre auf, nach der während der Abweſenheit des
Herrn eingeführten Ordnung; denn wenn er da iſt, ſo
wird der Flurſchlüſſel nicht inwendig umgedreht, damit
ich des Morgens ſelbſt öffnen kann und nicht zu läuten
brauche. Die Frau zog ſich aber wie ein Geiſt ſogleich
wieder in ihr Schlafzimmer zurück. In den von der
Sonne erhellten Zimmern bemerkte ich wenig Unordnung.
Einzig in dem Eßzimmer ſtand das Büffet geöffnet; eine
Caraffe, in der ſich ſeit Wochen ungefähr eine halbe
Flaſche ſicilianiſchen Weines faſt unverändert befunden
hatte, war geleert, das vorhandene Brot im Körbchen

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[124/0134] ein rieſiger Schatten, da meine Frau, wie mir ſchien auf zitternden Füßen, mit dem Nachtlämpchen vor ihm herſchwankte und das Licht mit der Hand ſo bedeckte, daß nach rückwärts kein Schein fallen konnte. So ging's die Treppe hinunter, das Hausthor wurde geöffnet und geſchloſſen, die Frau kam wieder heraufgeſtiegen, vor ihrer Thüre hielt ſie einen Augenblick an und that einen tiefen Seufzer; dann verſchwand ſie und alles ward wieder ſtill. Dann ſchlug es zwei Uhr auf den Thürmen. Die Frau war, ſo viel ich ſehen konnte, in ihrem Nachtgewande. „Begreiflich fand ich keinen Schlaf mehr. Die Laterne in unſerem Treppenhaus wird Punkt zehn Uhr gelöſcht und das Thor geſchloſſen; der Menſch oder was es war, mußte alſo ſich vor dieſer Zeit in's Haus geſchlichen haben oder dann einen Hausſchlüſſel beſitzen. Als ich um die fünfte Morgenſtunde ſchellte, that mir die Frau die Thüre auf, nach der während der Abweſenheit des Herrn eingeführten Ordnung; denn wenn er da iſt, ſo wird der Flurſchlüſſel nicht inwendig umgedreht, damit ich des Morgens ſelbſt öffnen kann und nicht zu läuten brauche. Die Frau zog ſich aber wie ein Geiſt ſogleich wieder in ihr Schlafzimmer zurück. In den von der Sonne erhellten Zimmern bemerkte ich wenig Unordnung. Einzig in dem Eßzimmer ſtand das Büffet geöffnet; eine Caraffe, in der ſich ſeit Wochen ungefähr eine halbe Flaſche ſicilianiſchen Weines faſt unverändert befunden hatte, war geleert, das vorhandene Brot im Körbchen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/134>, abgerufen am 29.04.2024.