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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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dem sie nicht einmal wußte, daß er gesehen worden. Der
Zustand ihrer Verwandten hatte sich mit der Zeit hie und
da doch wieder etwas verschlimmert und wiederholtes Ein¬
greifen und Aushelfen nöthig gemacht. Jedesmal ver¬
ursachte das der armen Regina, die jetzt ihrem Mann
mehr anhing als den Eltern und Geschwistern, Kummer
und Sorge. Besonders der eine der Brüder, der Soldat
gewesen, konnte sich mit dem Leben nicht zurecht finden.
Unzufrieden und düstern Gemüthes wechselte er immerfort
die Stelle und den Aufenthalt, da er sich ungerecht be¬
handelt glaubte und es zuletzt auch wurde, weil es nicht
lange dauert, bis die Menschen, die sich selbst mißhandeln,
auch von den andern mißhandelt werden, so zu sagen aus
Nachahmungstrieb. So war er von einer guten Zug¬
führerstelle, die man ihm bei einer Eisenbahn verschafft
hatte, allmälig bis zum Gehülfen oder vielmehr Knecht
eines Pferdehändlers herunter gekommen, der ihn als
ehemaligen Reitersmann gut brauchen konnte und doch
schlecht behandelte. Mit einer Anzahl Pferde durch den
Wald reitend waren sie in schweren Streit gerathen; der
Meister hieb dem Knechte mit der Peitsche über das Ge¬
sicht, und der Knecht schlug ihn hinwieder ohne Zögern
todt und floh auf einem der Pferde aus dem Walde.
Einige Meilen von der Mordstätte entfernt verkaufte er
das Thier und irrte mit dem Erlös im Land umher, ohne
den Ausweg finden zu können. Der erschlagene Ro߬
händler war von einem unbekannt gebliebenen zweiten

dem ſie nicht einmal wußte, daß er geſehen worden. Der
Zuſtand ihrer Verwandten hatte ſich mit der Zeit hie und
da doch wieder etwas verſchlimmert und wiederholtes Ein¬
greifen und Aushelfen nöthig gemacht. Jedesmal ver¬
urſachte das der armen Regina, die jetzt ihrem Mann
mehr anhing als den Eltern und Geſchwiſtern, Kummer
und Sorge. Beſonders der eine der Brüder, der Soldat
geweſen, konnte ſich mit dem Leben nicht zurecht finden.
Unzufrieden und düſtern Gemüthes wechſelte er immerfort
die Stelle und den Aufenthalt, da er ſich ungerecht be¬
handelt glaubte und es zuletzt auch wurde, weil es nicht
lange dauert, bis die Menſchen, die ſich ſelbſt mißhandeln,
auch von den andern mißhandelt werden, ſo zu ſagen aus
Nachahmungstrieb. So war er von einer guten Zug¬
führerſtelle, die man ihm bei einer Eiſenbahn verſchafft
hatte, allmälig bis zum Gehülfen oder vielmehr Knecht
eines Pferdehändlers herunter gekommen, der ihn als
ehemaligen Reitersmann gut brauchen konnte und doch
ſchlecht behandelte. Mit einer Anzahl Pferde durch den
Wald reitend waren ſie in ſchweren Streit gerathen; der
Meiſter hieb dem Knechte mit der Peitſche über das Ge¬
ſicht, und der Knecht ſchlug ihn hinwieder ohne Zögern
todt und floh auf einem der Pferde aus dem Walde.
Einige Meilen von der Mordſtätte entfernt verkaufte er
das Thier und irrte mit dem Erlös im Land umher, ohne
den Ausweg finden zu können. Der erſchlagene Ro߬
händler war von einem unbekannt gebliebenen zweiten

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[149/0159] dem ſie nicht einmal wußte, daß er geſehen worden. Der Zuſtand ihrer Verwandten hatte ſich mit der Zeit hie und da doch wieder etwas verſchlimmert und wiederholtes Ein¬ greifen und Aushelfen nöthig gemacht. Jedesmal ver¬ urſachte das der armen Regina, die jetzt ihrem Mann mehr anhing als den Eltern und Geſchwiſtern, Kummer und Sorge. Beſonders der eine der Brüder, der Soldat geweſen, konnte ſich mit dem Leben nicht zurecht finden. Unzufrieden und düſtern Gemüthes wechſelte er immerfort die Stelle und den Aufenthalt, da er ſich ungerecht be¬ handelt glaubte und es zuletzt auch wurde, weil es nicht lange dauert, bis die Menſchen, die ſich ſelbſt mißhandeln, auch von den andern mißhandelt werden, ſo zu ſagen aus Nachahmungstrieb. So war er von einer guten Zug¬ führerſtelle, die man ihm bei einer Eiſenbahn verſchafft hatte, allmälig bis zum Gehülfen oder vielmehr Knecht eines Pferdehändlers herunter gekommen, der ihn als ehemaligen Reitersmann gut brauchen konnte und doch ſchlecht behandelte. Mit einer Anzahl Pferde durch den Wald reitend waren ſie in ſchweren Streit gerathen; der Meiſter hieb dem Knechte mit der Peitſche über das Ge¬ ſicht, und der Knecht ſchlug ihn hinwieder ohne Zögern todt und floh auf einem der Pferde aus dem Walde. Einige Meilen von der Mordſtätte entfernt verkaufte er das Thier und irrte mit dem Erlös im Land umher, ohne den Ausweg finden zu können. Der erſchlagene Ro߬ händler war von einem unbekannt gebliebenen zweiten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/159>, abgerufen am 28.04.2024.