Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor
einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jenseitige
kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte allsobald
ihren prunkenden Namen an die Thüre geheftet, zugleich
aber einen Zettel vor das Fenster gehängt, welcher eine
möblirte Wohnung zum Vermiethen ausbot. Schon
waren einige Fremde dagewesen, aber keiner hatte es
länger als ein paar Tage ausgehalten, und sie waren
mittelst Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen.
Wer in die aufgestellte Falle dieser Miethe ging, der
durfte in seiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunk¬
haften Sopha liegen, nicht laut umhergehen, sondern er
mußte die Stiefeln ausziehen, um die Teppiche zu schonen;
er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln
unter das Fenster liegen, um die freiherrliche Wohnung
nicht zu entstellen, und überdies befand er sich wie ein
hülfloser Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von
Bedienung hielt, sondern Alles selbst besorgte und daher
jede Dienstleistung rundweg verweigerte, welche nicht in
der engsten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie stellte alle
Morgen eine Flasche frischen Wassers hin und füllte am
Abend das Waschgeschirr; sonst aber reichte sie nie ein
Glas Wasser, und wenn der Miethsmann am Ver¬
schmachten gewesen wäre. Das Alles begleitete sie mit
unfreundlichen, oder vielmehr meistens mit gar keinen
Worten. Niemand kannte ihre Verhältnisse und woher
sie kam; mit Niemandem ging sie um, und wenn ihre

Keller, Sinngedicht. 11

Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor
einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jenſeitige
kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte allſobald
ihren prunkenden Namen an die Thüre geheftet, zugleich
aber einen Zettel vor das Fenſter gehängt, welcher eine
möblirte Wohnung zum Vermiethen ausbot. Schon
waren einige Fremde dageweſen, aber keiner hatte es
länger als ein paar Tage ausgehalten, und ſie waren
mittelſt Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen.
Wer in die aufgeſtellte Falle dieſer Miethe ging, der
durfte in ſeiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunk¬
haften Sopha liegen, nicht laut umhergehen, ſondern er
mußte die Stiefeln ausziehen, um die Teppiche zu ſchonen;
er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln
unter das Fenſter liegen, um die freiherrliche Wohnung
nicht zu entſtellen, und überdies befand er ſich wie ein
hülfloſer Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von
Bedienung hielt, ſondern Alles ſelbſt beſorgte und daher
jede Dienſtleiſtung rundweg verweigerte, welche nicht in
der engſten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie ſtellte alle
Morgen eine Flaſche friſchen Waſſers hin und füllte am
Abend das Waſchgeſchirr; ſonſt aber reichte ſie nie ein
Glas Waſſer, und wenn der Miethsmann am Ver¬
ſchmachten geweſen wäre. Das Alles begleitete ſie mit
unfreundlichen, oder vielmehr meiſtens mit gar keinen
Worten. Niemand kannte ihre Verhältniſſe und woher
ſie kam; mit Niemandem ging ſie um, und wenn ihre

Keller, Sinngedicht. 11
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="161"/>
Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor<lb/>
einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jen&#x017F;eitige<lb/>
kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte all&#x017F;obald<lb/>
ihren prunkenden Namen an die Thüre geheftet, zugleich<lb/>
aber einen Zettel vor das Fen&#x017F;ter gehängt, welcher eine<lb/>
möblirte Wohnung zum Vermiethen ausbot. Schon<lb/>
waren einige Fremde dagewe&#x017F;en, aber keiner hatte es<lb/>
länger als ein paar Tage ausgehalten, und &#x017F;ie waren<lb/>
mittel&#x017F;t Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen.<lb/>
Wer in die aufge&#x017F;tellte Falle die&#x017F;er Miethe ging, der<lb/>
durfte in &#x017F;einer Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunk¬<lb/>
haften Sopha liegen, nicht laut umhergehen, &#x017F;ondern er<lb/>
mußte die Stiefeln ausziehen, um die Teppiche zu &#x017F;chonen;<lb/>
er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln<lb/>
unter das Fen&#x017F;ter liegen, um die freiherrliche Wohnung<lb/>
nicht zu ent&#x017F;tellen, und überdies befand er &#x017F;ich wie ein<lb/>
hülflo&#x017F;er Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von<lb/>
Bedienung hielt, &#x017F;ondern Alles &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;orgte und daher<lb/>
jede Dien&#x017F;tlei&#x017F;tung rundweg verweigerte, welche nicht in<lb/>
der eng&#x017F;ten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie &#x017F;tellte alle<lb/>
Morgen eine Fla&#x017F;che fri&#x017F;chen Wa&#x017F;&#x017F;ers hin und füllte am<lb/>
Abend das Wa&#x017F;chge&#x017F;chirr; &#x017F;on&#x017F;t aber reichte &#x017F;ie nie ein<lb/>
Glas Wa&#x017F;&#x017F;er, und wenn der Miethsmann am Ver¬<lb/>
&#x017F;chmachten gewe&#x017F;en wäre. Das Alles begleitete &#x017F;ie mit<lb/>
unfreundlichen, oder vielmehr mei&#x017F;tens mit gar keinen<lb/>
Worten. Niemand kannte ihre Verhältni&#x017F;&#x017F;e und woher<lb/>
&#x017F;ie kam; mit Niemandem ging &#x017F;ie um, und wenn ihre<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Keller</hi>, Sinngedicht. 11<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0171] Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jenſeitige kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte allſobald ihren prunkenden Namen an die Thüre geheftet, zugleich aber einen Zettel vor das Fenſter gehängt, welcher eine möblirte Wohnung zum Vermiethen ausbot. Schon waren einige Fremde dageweſen, aber keiner hatte es länger als ein paar Tage ausgehalten, und ſie waren mittelſt Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen. Wer in die aufgeſtellte Falle dieſer Miethe ging, der durfte in ſeiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunk¬ haften Sopha liegen, nicht laut umhergehen, ſondern er mußte die Stiefeln ausziehen, um die Teppiche zu ſchonen; er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln unter das Fenſter liegen, um die freiherrliche Wohnung nicht zu entſtellen, und überdies befand er ſich wie ein hülfloſer Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von Bedienung hielt, ſondern Alles ſelbſt beſorgte und daher jede Dienſtleiſtung rundweg verweigerte, welche nicht in der engſten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie ſtellte alle Morgen eine Flaſche friſchen Waſſers hin und füllte am Abend das Waſchgeſchirr; ſonſt aber reichte ſie nie ein Glas Waſſer, und wenn der Miethsmann am Ver¬ ſchmachten geweſen wäre. Das Alles begleitete ſie mit unfreundlichen, oder vielmehr meiſtens mit gar keinen Worten. Niemand kannte ihre Verhältniſſe und woher ſie kam; mit Niemandem ging ſie um, und wenn ihre Keller, Sinngedicht. 11

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/171
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/171>, abgerufen am 28.04.2024.